Wer die Weltkarte der Religionen betrachtet, wird Europa als christlichen Raum eingezeichnet finden. Aber - beschreibt das die Situation, wie wir sie erleben? Ist Europa noch christlich? Nüchtern betrachtet, leben wir längst mitten im Neuheidentum.
So ein Kulturpessimist, wird sich jetzt mancher denken. Religion erlebt doch eine Renaissance. Stimmt. Man darf wieder religiös sein - aber nicht christlich. Man darf von Gott reden - aber nicht davon, daß er in Jesus Christus Mensch geworden ist und uns Wege des Heils gezeigt hat. Wehe man versteigt sich zur Aussage, es gebe moralische Grundsätze, die nicht übertreten werden dürfen, ohne daß der Mensch zu Schaden kommt!
Versuchen Sie doch einmal ein Inserat zu schalten, das für die Änderung der Abtreibungsgesetze wirbt. Versuchen Sie, bei einem öffentlich gesponserten Kongreß über Religion und Psychotherapie (wie kürzlich in Graz) einen Therapeuten auftreten zu lassen, der über Heilerfolge bei Homosexuellen berichtet. Keine Chance.
Versuchen sie als ehemaliger Fernsehstar oder als Bischof die Werbetrommel für den Vorrang der Kinderbetreuung durch die eigene Mutter zu rühren: Sie werden einer Einheitsfront der Ablehnung, der Verurteilung, des an den Pranger Stellens durch die herrschende Elite in Politik, Kunst, Medien und weiter Kreise der Wissenschaft gegenüberstehen.
“Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kult im Ritualismus und die Kultur entartet" - eine Aussage von Kardinal Meisner, wert, bedacht zu werden. Aber was geschieht? Zornausbrüche in Politik und Medien wegen der Verwendung des Wortes “entartet": Als “ notorischer geistiger Brandstifter, der (...) die Grenzen des Erlaubten (...) vorsätzlich überschreitet", bezeichnet der deutsche Zentralrat der Juden den Kardinal. “Intolerant, ignorant und für einen so bedeutenden Kirchenmann unwürdig" - so das Urteil von FDP-Chef Guido Westerwelle, um nur zwei Aussagen zu zitieren.
Oder Eva Herman, ehemals deutscher Fernsehstar, mehrfach geschieden, berufsorientiert: Sie hat sich zur Ansicht bekehrt, daß es vorrangige Berufung der Frau sei, als Mutter für Kinder und Familie zu sorgen. Eine Abtrünnige vom Zeitgeist. Bei der Präsentation ihres neuen Buches verheddert sie sich in einem Satzgebilde, das ihre eindeutige Anti-Nazi-Feststellung ein paar Sätze vorher in Frage stellen könnte - wenn man ihr eins auswischen wollte. Genau das geschieht: Innerhalb weniger Stunden wird sie von ihrem Arbeitgeber, ARD, gefeuert. Ihre Aufgabe als Fernsehmoderatorin sei unvereinbar mit ihrem “Mütterkreuzzug".
“Familienpolitische Maßnahmen müssen den Eltern unmittelbar helfen und dürfen nicht als staatliches Umerziehungsprogramm für Frauen und Mütter mißbraucht werden," hatte wiederum Bischof Mixa erklärt. Eine ganz und gar nicht abwegige Äußerung nach den Erfahrungen mit DDR-Kinderkrippen. Damit hat sich der Bischof von Seiten der deutschen “Grünen" Beschimpfungen wie “durchgeknallter, spalterischer Oberfundi" eingehandelt.
Der Wind im geistigen Ringen unserer Tage wird rauher. Christliche Positionen kommen nicht in den Genuß jener Toleranz, die von allen medialen Kanzeln fortwährend eingemahnt wird. Die Liberalität des Liberalismus ist nämlich einseitig. Sie wird nur eingemahnt, wenn jemand die Restbestände der christlichen Ordnung durch den Kakao zieht.
Tatsächlich haben wir es heute jedoch mit einem dogmatischen Liberalismus zu tun. Typisches Beispiel: die Parlamentarische Versammlung des Europarates. Mit 48 gegen 25 Stimmen nahm dieses Gremium kürzlich eine Entschließung an, in der es heißt: “Wenn wir nicht aufpassen, kann der Kreationismus eine Bedrohung für die Menschenrechte werden." Aber nicht nur diese auf einer wörtlichen Auslegung des Schöpfungsberichts beruhende Sichtweise wird verurteilt. Auch Wissenschaftler, die sich zum “Intelligent Design" bekennen, also zur Erkennbarkeit einer hinter den natürlichen Ordnungen stehenden Intelligenz, werden als Gefahr dargestellt. Damit wird der blinde Zufall als Ursache von allem und jedem offiziell dogmatisiert.
Das Europaparlament hatte sich schon im Vorjahr durch einen anderen, an Totalitarismus grenzenden Beschluß hervorgetan: Mit 468 Ja- gegen 149 Neinstimmen verabschiedete es eine Resolution, in der zur Gleichstellung von homosexuellen Paare mit Ehepaaren und zur Verurteilung aller Staaten aufgefordert wird, die sich gegen die Anerkennung der “Ehe" für gleichgeschlechtliche Paare aussprechen. Das dürfe nicht geduldet werden.
Wer sich gegen die Etablierung der Homosexualität ausspricht, dem stehen in manchen Staaten schon jetzt Strafen ins Haus, wie der französische Abgeordnete Christian Vanneste 2006 erfahren mußte. Seine Feststellung, Homosexualität “sei im Vergleich zur Heterosexualität minderwertig. Würde man sie allgemein verbreiten, wäre das eine Gefahr für die Menschheit," kostete ihn 6.000 Euro Strafe plus Prozeßkosten. Man bedenke: Diese Binsenweisheit war Teil des Wissens fast aller Kulturen zu allen Zeiten.
Wir stehen am Ende einer stillen, geistigen Revolution, die darangeht ihre Errungenschaften abzusichern, Gegenpositionen auszugrenzen - und zu verurteilen. Christen sollten klar erkennen: sie stehen in einer gigantischen geistigen Konfrontation, der sie nicht ausweichen dürfen. Sie sind es den Menschen unserer Tage schuldig, in den wesentlichen, die menschliche Person betreffenden Fragen Stellung zu beziehen. Das Lehramt der Kirche ruft eindringlich dazu auf. Es vertritt damit ein Anliegen, das noch vor 60 Jahren auch von weltlichen Instanzen eingemahnt wurde. Im Hadamarer Euthanasieprozeß 1947 gegen Nazi-Ärzte hieß es noch:
“Es gibt ein über den Gesetzen stehendes Recht, das allen formalen Gesetzen als letzter Maßstab dienen muß. Es ist das Naturrecht, das der menschlichen Rechtssatzung unabdingbare und letzte Grenzen zieht. ... Diese letzten Rechtssätze im Naturrecht sind zwingend, weil sie unabhängig vom Wandel der Zeit und vom Wechsel menschlicher Anschauungen durch die Jahrtausende gegangen sind und über alle Zeiten hinweg den gleichen Bestand und die gleiche Gültigkeit besitzen. Sie müssen deshalb einen unerläßlichen und fortwährenden Bestandteil dessen bilden, was menschliche Ordnung und menschlicher Sinn schließlich als Recht und Gesetz bezeichnen. (...) Einer dieser in der Natur tief und untrennbar verwurzelten letzten Rechtssätze, ist der Satz von der Heiligkeit des menschlichen Lebens und dem Recht des Menschen auf dieses Leben, das der Staat nur fordern darf auf Grund eines Richterspruches oder im Kriege."
Was hätten die alliierten Richter wohl zu den heute weitverbreiteten Abtreibungs- und den um sich greifenden Euthanasiegesetzen gesagt? Und welches Urteil hätten sie wohl über jene gefällt, die an den Greueltaten in unseren Tagen beteiligt sind?
Wenn die weltlichen Instanzen die “unabdingbaren und letzten Grenzen" überschreiten, ist es Aufgabe der Gläubigen, die zeitlos gültigen Wahrheiten über den Menschen einzumahnen - gebeten oder ungebeten: Liebe- und verständnisvoll in der Begegnung mit jenen, die sich in Sackgassen verlaufen haben, nicht verbissen und besserwisserisch, aber entschieden, wenn es um das Zeugnis für die Wahrheit geht.
Wir müssen uns trauen, Klartext zu reden. Ja, es gibt eine Wahrheit. Papst Benedikt XVI. hat uns in Mariazell in Erinnerung gerufen: Wo keine Wahrheit, da keine Unterscheidung von Gut und Böse. Noch lebt die moderne Gesellschaft von Restbeständen der christlichen Ordnung. Weil sie diese aber systematisch zerstört, ist das bevorstehende Chaos absehbar.
Romano Guardini, der große Theologe, hat in seinem Buch “Das Ende der Neuzeit" prophetisch vorausgesehen, was wir heute erleben: “So bildet sich eine nichtchristliche, vielfach widerchristliche Lebensform heraus. Sie setzt sich so konsequent durch, daß sie als das Normale einfachhin erscheint, und die Forderung, das Leben müsse von der Offenbarung her bestimmt werden, den Charakter kirchlichen Übergriffs bekommt. Selbst der Gläubige nimmt diesen Zustand weithin an..."
Was bedeutet das für das christliche Leben heute: Entschiedenheit, Verankerung in Jesus Christus, der uns im Heiligen Geist führt - und Festhalten an der Lehre der Kirche, wie Guardini sagt: “Je schärfer sich (das Christentum) von einer herrschenden nicht-christlichen Anschauung unterscheiden muß, desto stärker wird im Dogma neben dem theoretischen das praktisch-existentielle Moment hervortreten. (...) Der Charakter der Absolutheit, die Unbedingtheit der Aussage wie der Forderung werden sich schärfer betonen."
Christof Gaspari