Für uns scheint es (noch) selbstverständlich zu sein, unseren Glauben ungehindert leben zu können; trotzdem ist es sinnvoll, die Botschaft von Christen zu hören, deren Glaubensleben nicht ganz so ungehindert war und die uns daher einiges zu sagen hätten, wie z. B. der vietnamesische Kardinal Thuan.
Christenverfolgungen haben in Vietnam eine lange Tradition. Der am 17. April 1928 in Hue geborene Thuan stammte von Überlebenden eines Massakers von 1885 und war stolz darauf, unter seinen Vorfahren viele Märtyrer zu haben. Von den Familien seiner Eltern bekam er ein reiches geistiges und geistliches Erbe mit: er nannte es “Kultur des Steins" (die Frucht menschlicher Arbeit), die auf der “Kultur des Papiers" (dem Wissen und der Geschicklichkeit) aufbaut, und als Grundlage die “Kultur des Geistes" (die innere Eingebung) hat.
Am wichtigsten war jedoch die Kultur des Geistes, der christliche Glaube, der Thuan schon als Kind formte, gemeinsam mit der Wertschätzung der Tradition Vietnams. Zum Selbstverständnis der Familie gehörte Patriotismus, der persönliche Einsatz für die Souveränität des von den Franzosen kolonisierten Landes. Als Beispiel sei sein Onkel Diêm genannt, der als Präsident Südvietnams nicht nur arg verleumdet wurde, sondern sein christlich motiviertes Handeln und seine Gesinnung mit dem Leben bezahlte. Von ihm lernte Thuan das logische Denken und den Bezug zur Geschichte Vietnams.
Besonders tief prägte Thuan seine Mutter Hiêp. “Meine Mutter brachte mir Abend für Abend die Geschichten aus der Bibel bei; sie erzählte mir die überlieferten Berichte über unsere Märtyrer, besonders die unserer Vorfahren. Sie lehrte mich die Liebe zum Vaterland".
Ein weiteres (für uns bereits fast fremdes) Prinzip der vietnamesischen Gesellschaft war die Unantastbarkeit der Familie: die selbstverständliche innere - und helfende - Verbundenheit, die alle, auch entfernte Familienglieder, mit einbezog, war für Thuans Leben von größter Bedeutung.
Thuan, in dem der Keim der Priesterberufung schon früh gelegt war, besuchte ab 1940 das als streng geltende Konvikt von An Ninh, geführt von hervorragenden Lehrern der Pariser Missionsgesellschaft. Dort festigte sich seine Berufung; er lernte, daß die Frucht eigenen Bemühens von Gott abhängt und zu einer inneren Unabhängigkeit von Erfolg bzw. Mißerfolg führen muß.
Die Jahre des 2. Weltkrieges, die zwar den Anfang vom Ende der französischen Kolonisation, jedoch den Beginn der kommunistischen Herrschaft brachten, waren für Thuan harte Lehrjahre, die ihn viel über die Vergänglichkeit von Macht, Ehre und Einfluß nachdenken ließen.
1947 trat Thuan ins Priesterseminar von Hue ein. 1953 empfing er die Priesterweihe. Doch schon kurz darauf mußte er, schwer an Tuberkulose erkrankt, nach Saigon gebracht werden, um - als einzige Überlebenschance - den erkrankten Lungenflügel operativ entfernen zu lassen. Im April 1954 wurde er ins französische Militärkrankenhaus eingewiesen. Als am Tag der Operation jedoch ein Kontrollröntgen gemacht wurde, war die Lunge frei: eine wahrhaft wunderbare Heilung.
In dieser Zeit wurde, nach der verheerenden Schlacht bei Dien Bien Phu, die Teilung Vietnams in den kommunistischen Norden und den von den Franzosen verwalteten “freien" Süden festgelegt.
Thuan wurde nun Kaplan in der größten französischen Gemeinde von Hue und half vielen völlig verängstigten Gemeindemitgliedern bei ihren schweren Entscheidungen der Rückkehr nach Frankreich, war doch vielen Franzosen Vietnam zur Heimat geworden. Zu Thuans Aufgaben gehörte auch die Betreuung der Provinzgefängnisse - mit Erfahrungen, die ihm in seiner späteren eigenen Haft sehr halfen.
Nach wenigen Monaten schickte ihn sein Bischof, der Thuans Führungseigenschaften erkannt hatte, nach Rom zum Studium. Hier und auf verschiedenen Reisen durch Europa erfaßte Thuan die Weite der katholischen Kirche, aber auch, daß diese die Laien in deren wichtigem Beitrag für Kirche und Welt zu wenig förderte. In Lourdes erahnte er den Ruf zum Martyrium und gelobte, aus Liebe zu Jesus und Maria alle Leiden und Prüfungen anzunehmen.
1959 promovierte er in Kirchenrecht und kehrte nach Vietnam zurück, wo Bürgerkrieg war, angefacht durch den Vietkong und das militärische Engagement der Amerikaner. 1963 kam es zum Putsch gegen Thuans Onkel Diêm und dessen Ermordung. Eine schwere Zeit brach für Thuan an. In all den Nöten war, wie in den vergangenen Krisen, seine Mutter in ihrer tiefen Gläubigkeit eine große Stütze.
1967 wurde Thuan Bischof von Nha Trang. Als Motto wählte er “Gaudium et spes" - er wollte ein Apostel der Freude und der Hoffnung sein. Im Bewußtsein, daß in absehbarer Zeit das ganze Land trotz amerikanischer Truppenpräsenz kommunistisch beherrscht sein würde, wollte er die Laien schulen, die Priesterausbildung intensivieren, die Kirche auf ein Leben unter kommunistischer Herrschaft vorbereiten.
Als die Kommunisten immer weiter vordrangen und riesige Flüchtlingsströme in größter Not unterwegs waren, organisierte Thuan eine beispiellose Nothilfe, wohlwissend, daß er sich damit den Zorn der Kommunisten zuzog. Kurz vor dem Fall von Nha Trang weihte Thuan alle vorbereiteten Seminaristen zu Priestern. 1975 wurde er zum Erzbischof-Koadjutor von Saigon ernannt - mit verheerenden Konsequenzen für ihn: Am 15. August wurde er verhaftet. Die Beschuldigung: “Helfeshelfer der Imperialisten und des Vatikans".
Vorerst unter Hausarrest gestellt, war er von allen menschlichen Kontakten abgeschnitten. Trotzdem entstanden in dieser Zeit “Briefe" an die Gläubigen: Gedanken und Erkenntnisse als Hilfe für die Menschen, verfaßt auf kleinen Zetteln, hinausgeschmuggelt mit Hilfe eines furchtlosen Jungen. So entstand das Buch “Hoffnungswege", das bald im Untergrund den Weg in die USA und nach Frankreich fand.
Die Kommunisten rächten sich sofort, und Thuan kam für 9 Monate in Isolationshaft, mußte Verhöre, die “Geständnisse" erzwingen sollten, durchstehen. Die ganze Palette des Terrors einer perversen Diktatur wurde aufgeboten, um ihn zu brechen. Dabei war er nie angeklagt und verurteilt worden! Trotzdem verstand er bald, daß “Eines die Werke Gottes - etwas anderes Gott selbst" ist. Gott konnte er immer lieben, was wichtiger war als seine erzwungene priesterliche Untätigkeit. Diese Erkenntnis war wohl seine Rettung: er konnte alle Leiden annehmen - sie wurden zur Quelle der Hoffnung. In Ketten (!) wurde er nach Nordvietnam gebracht, mit rund 1.500 Mitgefangenen in den Laderaum eines Kohledampfers gepfercht. Selbst da gab er den Verzweifelten Zuspruch, so gut er konnte. Er kam in ein Arbeitslager - und doch konnte er die Eucharistie feiern mit einigen Tropfen Wein (“Magenmittel") und Brotkrümeln. Von dort kam er wieder für 15 Monate in ein Gefängnis; doch immer gewann er die Herzen, auch die vieler Aufseher.
Da der internationale Druck zugunsten Thuans wuchs, isolierte man ihn in einem Dorf. Und auch hier wirkte er seelsorglich. Er schrieb sogar zwei Bücher, die ebenfalls ins Ausland geschmuggelt wurden.
Weil sich trotz Bewachung und Bespitzelung seine priesterliche Tätigkeit immer mehr ausweitete, kam er wieder in Isolationshaft, 6 Jahre lang. Immer wenn zum Wachpersonal menschlichere Kontakte entstanden waren, wurde er verlegt. Als ruchbar wurde, daß er Geheimpolizisten das “Te Deum" beigebracht hatte, wurde die Haft verschärft: ein weiterer Versuch, ihn zu brechen. Für die Behörden war Thuan wohl ein echtes Problem.
Endlich, am 21. November 1988 wurde er freigelassen und durfte sich, auf Hanoi beschränkt, relativ frei bewegen. Als er einen Paß beantragte, um seine Eltern in Australien zu besuchen, geschah das Wunder: er bekam ihn und durfte sogar nach Rom, um “den Papst zu sehen". Aber nach seiner Rückkehr wurde ihm klar gemacht, daß er sein Bischofsamt in Vietnam nie ausüben dürfe; die Kommunisten fürchteten wohl seine Fähigkeiten und seine Beliebtheit. So verließ er 1991 auf Wunsch Roms Vietnam, wissend, nie mehr zurückkehren zu können. Ab dieser Zeit bis zu seinem Tod am 16. September 2002 setzte er sich vehement für die Entwicklungsländer ein.
2001 wurde er zum Kardinal erhoben. Vielleicht wichtiger noch war, daß er für Unzählige weltweit der überzeugendste Botschafter des Verzeihens und des Friedens war, der auch seinen schlimmsten Peinigern vergeben hatte und nie böse Worte für sie fand - im Gegenteil. Seine Bücher sind Zeugnisse der “Hoffnung, die uns trägt", die ihren Ursprung im Vertrauen auf Gottes Gegenwart und Wirken hat - auch in widrigsten Umständen.
Heuer wurde sein Seligsprechungsprozeß eingeleitet.