VISION 20006/2007
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Sie sind leider rasch vergessen

Artikel drucken “Ich möchte an das Fürbittgebet für die Verstorbenen erinnern." (Von Urs Keusch)

Manchmal erzählen einem Menschen ihre Träume: Träume und Erlebnisse, die für sie mehr waren als Träume. Erfahrungen, in denen ihnen, wie sie sagen, etwas aus der besseren Welt zugebracht worden ist.

Träume sind Schäume, sagen wir, und das trifft auf viele Träume zu. Und doch gibt es Träume, die mehr sind als nur Schaum. Der Talmud sagt: “Träume, die wir nicht deuten, sind wie Briefe, die wir nicht lesen."

Und in der Tat - die Geschichte der Menschen ist voll davon: Es gibt Träume, die wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst, und meistens können wir sie gar nicht vergessen. Don Bosco zum Beispiel war ein solcher heiliger Träumer. Wenn er seine Träume erzählt, sieht man mehr als die Wirklichkeit. Sie sind “visionär", künden von der anderen Welt, vermitteln einen Eindruck von der unfaßbaren Welt hinter oder über der Erscheinungswelt, die uns umgibt.

Im Traum hat Gott zu Josef gesprochen, zu Josef in Ägypten und zu Josef, dem Bräutigam der Gottesmutter Maria. Im Traum sprach Gott zu Jakob, zu Salomo, zu Daniel. Im Traum sah die Frau des Pilatus, daß Jesus unschuldig ist, und daß Pilatus die Hände von Jesus lassen solle.

Ein Traum kann beides sein: Schaum - aber auch eine der vielen Weisen, in denen die Liebe Gottes zärtlich an die Seele des Menschen rührt, um sie zu trösten, um sie zu mahnen, um sie aufzuschrecken, um ihr etwas zu sagen, was der Mensch am hellichten Tag sonst nicht hören und verstehen könnte.

Eine Frau erzählte mir kürzlich einen solchen Traum. Sie erzählte mir, daß vor gut zwei Jahren ihre Mutter gestorben sei, mit der sie sich zeitlebens nicht gut verstanden habe. Eigentlich sei sie froh gewesen, daß sie gestorben sei, denn jeder Besuch bei ihr sei in den letzten Monaten für sie ein Horror gewesen. “Ich war jedesmal fix und fertig." Dieser Tod hatte sie schließlich in eine seelische Krise gestürzt.

Vor gut einem halben Jahr hat sie also von ihrer Mutter geträumt: “Sie stand vor mir, ohne ein Wort zu sagen, den Blick gesenkt, etwas zur Seite gewendet. Ihre ganze Haltung verriet Traurigkeit, aber eine Traurigkeit, die von Hoffnung beseelt war. Die Hülle, das, woran ich mich an ihr fast ein Leben lang immer wieder wundgestoßen hatte, war wie von ihr abgestreift. Es stand vor mir nur noch eine Gestalt voll Sanftmut und Ergebung. Ich glaube, sie hatte gar keinen eigenen Willen mehr, der einmal so stark und beherrschend war. Nein, er schien wie eingetaucht in die ewige Liebe.

Sie war Heimweh nach Gott, nur noch Sehnsucht nach Frieden, nur noch schweigendes Gebet und betende Geduld. Nichts konnte sie ablenken von dem tiefen Blick nach innen, wo sie, glaube ich, etwas Unaussprechliches schaute. Ach, fände ich doch Worte, dies alles zu beschreiben! Meine Mutter war in dieser Erscheinung unbeschreiblich sanft und liebevoll. Allein, wie sie vor mir stand, schweigend, war mir, als bitte sie mich und alle Menschen um Liebe, um Verzeihung und Barmherzigkeit! - Seither bin ich ein umgekehrter Mensch. Mir wurde in diesem Traum eine so große Liebe zu meiner Mutter geschenkt, daß sie meine allerliebste Freundin geworden ist.

Ich bete seither jeden Tag für sie, und ich bete für alle Menschen, die im Reinigungsort voll Sehnsucht leiden. Denn seither weiß ich, wie tief innerlich sie leiden, aber auch, wie voll ruhiger, geduldiger Hoffnung sie auf Gott ausgerichtet sind und es nicht erwarten können, Sein Angesicht voll Liebe zu schauen. Ich spüre seither ganz fest: Sie sehnen sich nach unserem Mitleid, nach unserer Liebe, nach unserer Dankbarkeit, sie sehnen sich nach unserem Gebet, nach liebevollen Worten, ja, sie betteln um unsere Liebe - und daß wir ihnen vollkommen verzeihen."

Das sind berührende Erlebnisse, die einem als Seelsorger geschenkt werden, und wie wünschte man sich, es würden viel mehr Menschen es wagen, anderen solche Erlebnisse weiterzuerzählen, von denen sie wissen, daß diese damit in rechter Weise umgehen können! Es gibt diese Träume, es gibt diese geheimnisvollen Erlebnisse viel häufiger, als man denkt, es gab sie früher und es gibt sie auch heute.

Solche Träume, solche Erlebnisse mit verstorbenen Menschen, die uns nahe standen, sind nicht nur “heiligen Seelen" vorbehalten, nicht nur den Mystikern, sie werden immer wieder Menschen geschenkt, damit das Andenken an sie nicht ganz vergessen geht.

Denn das ist das Los der Verstorbenen: daß sie schnell vergessen sind! “Aus den Augen, aus dem Sinn." Man glaubt sie nach dem Tod gleich im Himmel. Was für ein folgenschwerer Irrtum, vor allem für die Verstorbenen! Denn die Kirche lehrt uns, daß nur die ganz gereinigte, die ganz versöhnte, die ganz geläuterte und in der Liebe und Wahrheit ganz durchglühte Seele in die Herrlichkeit des Himmels eingehen kann.

Es muß jeden ergreifen, bisweilen auch erschüttern, der sich die Mühe nimmt und sich in der Tradition der Kirche umschaut und sich den Äußerungen jener Heiligen und Mystiker öffnet, die sich zur Reinigung der Verstorbenen (im Purgatorium, Fegefeuer) äußern. Man liest viele dieser Berichte nicht ohne Erschütterung darüber, wie lange für viele Verstorbene dieser Zustand der Reinigung dauert und wie unvorstellbar verloren, einsam und leidend sich viele (nicht alle!) dieser unserer Brüder und Schwestern oft vorkommen, auch wenn das Fegefeuer, dieser “Aufenthaltsort der Hoffnung" (Hl. Franziska von Rom), letztlich immer als ein Ort der unendlichen Barmherzigkeit Gottes verstanden werden muß.

Es kommt nicht von ungefähr, daß Papst Benedikt XVI. in “Sacramentum caritatis" eigens darauf hinweist, daß wir das Gebet für die Verstorbenen nicht vernachlässigen dürfen, im Gegenteil. Er schreibt: “Ich möchte gemeinsam mit den Synodenvätern alle Gläubigen an die Wichtigkeit des Fürbittgebetes - insbesondere der Meßfeiern - für die Verstorbenen erinnern, damit sie geläutert zur seligen Schau Gottes gelangen."

Zur Heiligen Faustyna sagte einmal der Herr: “Kehre oft ins Fegefeuer ein, dort wirst du gebraucht!" Der Herr will sie - und mit ihr auch uns - daran erinnern, daß wir die Verstorbenen, die sich auf dem Weg der Läuterung zur Anschauung Gottes befinden, nicht vergessen dürfen, daß sie sich nach unserem Gebet und nach unserer Barmherzigkeit sehnen, weil sie zur großen Familie der Kinder Gottes gehören, zur Gemeinschaft der Heiligen.

Weil der Glaube an Gott und die Liebe zu Gott sich in uns Menschen immer mehr abkühlt, erstirbt in uns auch das geistige Fühlen, das innerliche Wissen um die geistlichen Dinge und Zusammenhänge, das Gespür, daß wir in der allumfassenden Liebe Gottes alle eine große Familie bilden und füreinander dasein sollen. Es zeugt von religiöser Oberflächlichkeit, wenn wir meinen, mit dem Tod sei der Mensch “endlich erlöst und im Himmel". Nein: für viele Menschen fängt erst dann das Leiden an, das Leiden der Seele, der Weg der Läuterung im Feuer der Liebe Gottes, der nach Aussagen der Heiligen und Mystiker oft ein unvorstellbar schmerzlicher und ein langer Weg ist.

Sr. Faustyna wird einmal in einer Vision ins Fegefeuer geführt, und sie fragt dann die Seelen, “welches ihr größtes Leiden sei. Übereinstimmend antworten sie, ihr größtes Leiden sei die Sehnsucht nach Gott." Betroffen von den unsagbaren Leiden der Seelen vernimmt Sr. Faustyna eine innere Stimme, die zu ihr sagt: “Meine Barmherzigkeit will das nicht, aber die Gerechtigkeit befiehlt es."

Es ist ein großer Schmerz für die Liebe Gottes, wenn sich ein Mensch auf dieser Welt nicht ganz und radikal auf Seine Liebe einläßt. Denn die Liebe, so sagt die Heilige Theresia vom Kinde Jesu, ist der schönste und kürzeste Weg zum Himmel. Die Liebe ist das reinigende Feuer schon hier auf Erden.

Die Liebe Gottes will das Fegefeuer nicht, sie will dieses Leiden nicht. Aber, so müssen wir doch bekennen, wer geht schon in diesem Leben unbeirrt den königlichen Weg der Kinder Gottes, den demütigen vertrauensvollen Weg der geistlichen Armut vor Gott?

Wer verzeiht aus ganzem Herzen allen Menschen, die ihm wehgetan haben, und betet für seine Feinde und tut ihnen Gutes? Wer bereut und beweint seine Sünden aus ganzem Herzen und tut Werke der Umkehr? Wer achtet sorgfältig darauf, jedes “unnütze Wort" (Mt 12,36) zu vermeiden, für das er beim Gericht Rechenschaft ablegen muß? Wer ist sich bewußt, daß jedes lieblose Wort gegenüber einem Menschen, alles Urteilen und Richten die Finsternis unseres Herzens nur noch größer macht und uns in Gefahr bringt, für die ewige Liebe verloren zu gehen? (vgl 1. Johannesbrief)

Und wie sind wir doch in den Strukturen der Gerechtigkeit noch so tief gefangen! Heißt es nicht allerorten: “Gerechtigkeit muß sein!". Doch Jesus hält uns entgegen: “So wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden!" (Mt 7,2)

Noch ein letzter Gedanke: Das Wissen, das frohe und selige Wissen, daß wir in der Liebe Gottes eine große lebendige Gemeinschaft sind, eine wirkliche Familie, die Gemeinschaft der Heiligen im Himmel, auf Erden und im Fegefeuer, daß zwischen uns allen eine geistliche Gütergemeinschaft besteht, daß wir also füreinander in Liebe und Barmherzigkeit dasein können: das ist ein unendlich tröstlicher Gedanke, um den uns viele Menschen anderer Konfessionen und Religionen nur beneiden können!

Und ebenso tröstlich ist das gläubige Wissen, daß mit dem Tod das Gespräch mit unseren verstorbenen Brüdern und Schwestern, mit unseren Eltern, Kindern, Freunden nicht einfach abgebrochen ist, sondern im Gebet - durch das geöffnete Herz unseres Erlösers - weitergehen kann. Dieser Glaube eröffnet uns den Raum und die Möglichkeit, noch vieles zu besprechen, zu bereuen, zu bereinigen, zu versöhnen und vor Gott in Ordnung zu bringen, was vielleicht auf dieser Welt nicht mehr möglich war.

Vergessen wir es nie: Im Himmel gibt es nur versöhnte Menschen, nur liebende Menschen. Ohne vollkommene Versöhnung und Barmherzigkeit, ohne ganz bereinigte und versöhnte Liebe mit allen Menschen - mit allen Menschen! - gibt es für uns keinen Himmel.

Der Autor ist emeritierter Pfarrer.


Buchempfehlungen:

Pater Pio und die Armen Seelen. Von Padre Alessio Parente, Edizione Padre Pio da Pietrelcina (ein Buch, das sich leicht liest, weil es nicht nur spannend, sondern an einzelnen Stellen fast ein wenig poetisch geschrieben ist)

Die Zeit des Fegefeuers. Von Pater Jean-Marc Bot, Parvis-Verlag (etwas theologischer gehalten)

Fegefeuer, Leiden, Freuden und Freunde der Armen Seelen. Von Ferdinand Holböck, Christiana-Verlag (50 kurze Lebensbilder von Freunden der Armen Seelen und ihren mystischen Erfahrungen aus der Geschichte der Kirche)

Diese und andere Bücher können bezogen werden bei: Christoph Hurnaus, Waltherstr. 21, A-4020 Linz, Tel/Fax: 0732 788 117; Email: hurnaus@aon.at

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