Nächstenliebe ist nicht delegierbar; Staat und Politik (...) können sie bei allem nötigen Bemühen um einen Sozialstaat doch nicht ersetzen. Nächstenliebe erfordert immer den persönlichen freiwilligen Einsatz, für den der Staat freilich günstige Rahmenbedingungen schaffen kann und muß. Dank dieses Einsatzes behält Hilfe ihre menschliche Dimension und wird nicht entpersonalisiert. Und genau darum seid Ihr Freiwilligen nicht Lückenbüßer im sozialen Netz, sondern wirklich Mitträger am humanen und christlichen Gesicht unserer Gesellschaft.
Gerade junge Menschen sehnen sich danach, daß ihre Fähigkeiten und Talente “geweckt und entdeckt" werden. Freiwillige wollen gefragt, sie wollen persönlich angesprochen werden. “Ich brauche dich!", “Du kannst das!": Wie gut tut uns diese Ansprache. Gerade in ihrer menschlichen Einfachheit verweist sie hintergründig auf den Gott, der jeden von uns gewollt, jedem seinen Auftrag mitgegeben hat, ja, der jeden von uns braucht und auf unseren Einsatz wartet.
So hat Jesus Menschen gerufen und ihnen Mut gemacht zu dem Großen, das sie sich selber nicht zugetraut hätten. Sich ansprechen lassen, sich entscheiden und dann ohne die üblich gewordene Frage nach Nutzen und Profit einen Weg gehen - diese Haltung wird heilende Spuren hinterlassen. Die Heiligen haben mit ihrem Leben diesen Weg aufgezeigt. Es ist ein interessanter und spannender, ein großmütiger und gerade heute ein zeitgemäßer Weg. Das Ja zu einem freiwilligen und solidarischen Engagement ist eine Entscheidung, die frei und offen macht für die Not des anderen; für die Anliegen der Gerechtigkeit, des Lebensschutzes und der Bewahrung der Schöpfung. Im Ehrenamt geht es um die Schlüsseldimensionen des christlichen Gottes- und Menschenbildes: die Gottes- und die Nächstenliebe.
(...) Eine Kultur, die alles verrechnen und auch alles bezahlen will, die den Umgang der Menschen miteinander in ein oft einengendes Korsett von Rechten und Pflichten zwingt, erfährt durch unzählige, sich ehrenamtlich engagierende Mitmenschen, daß das Leben selbst ein unverdientes Geschenk ist.
So unterschiedlich, vielfältig oder auch widersprüchlich die Motive und auch die Wege des ehrenamtlichen Engagements sein können, ihnen allen liegt letztendlich jene tiefe Gemeinsamkeit zugrunde, die dem “Umsonst" entspringt. Umsonst haben wir das Leben von unserem Schöpfer erhalten, umsonst sind wir aus der Sackgasse der Sünde und des Bösen befreit worden, umsonst ist uns der Geist mit seinen vielfältigen Gaben geschenkt worden. In meiner Enzyklika habe ich geschrieben: “Die Liebe ist umsonst; sie wird nicht getan, um andere Ziele zu erreichen." “Wer in der Lage ist zu helfen, erkennt, daß gerade auch ihm geholfen wird und daß es nicht sein Verdienst und seine Größe ist, helfen zu können. Dieser Auftrag ist Gnade." Umsonst geben wir weiter, was wir bekommen haben, durch unser Engagement, unser Ehrenamt. Diese Logik des “Umsonst" liegt jenseits des bloß moralischen Sollens und Müssens.
Ohne freiwilliges Engagement konnten, können und werden Gemeinwohl und Gesellschaft nicht bestehen. Freiwilligkeit lebt und bewährt sich jenseits von Kalkulation und erwarteter Gegenleistung; sie sprengt die Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft. Denn der Mensch ist weit mehr als nur ein ökonomisch handelnder und zu behandelnder Faktor. Die Fortentwicklung und Würde einer Gesellschaft hängt immer wieder und gerade an jenen Menschen, die mehr tun als ihre Pflicht.
Ansprache im Wiener Konzerthaus am 9.9.07