VISION 20006/2014
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Anspornen, positive Haltungen zu erlernen

Artikel drucken Was Psychotherapie vermag – und was nicht

Immer mehr Menschen suchen Zuflucht beim Psychotherapeuten. Freudlos, antriebslos kom­men sie mit ihrem Alltag nur schwer zurecht. Kann da die Psychotherapie helfen? Ist sie ein Weg, um wieder Freude ins Leben zu bringen? Gespräch mit einem Psychotherapeuten.

Ist Freude überhaupt ein Thema für die Psychotherapie?
Univ. Doz. Raphael Bonelli: Eigentlich wird das Wort Freude in der Psychiatrie nur als Negation verwendet: freudlos. Depressive Menschen sind freudlos, lustlos, antriebslos. Wer depressiv ist, kann sich nicht mehr freuen. Da ist ein affektives Reagieren auf etwas Angenehmes verloren gegangen.

Was ist damit gemeint?
Bonelli: Jemand sagt etwa: „Ich habe mich immer gefreut, wenn meine Enkel gekommen sind. Jetzt nicht mehr.“ Das ist Zeichen einer Depression. Wir haben es hier mit einer oberflächlichen Art von Freude zu tun, nicht mit einer, wie wir sie in der Spiritualität antreffen. Sehr viel häufiger wird allerdings in der psychologischen Forschung vom Glück geredet.

Was versteht sie darunter?
Bonelli: Hier kommt Zufriedenheit mit dem eigenen Schicksal, den Lebensumständen zum Ausdruck. Dieses Empfinden hat natürlich auch viel mit Freude zu tun.

Hat die Therapie das Ziel, dem Menschen die Fähigkeit wiederzugeben, Glück zu empfinden?
Bonelli: So sieht es eine neue Bewegung innerhalb der Psychologie. Die alte Psychologie hat sich bis vor kurzem auf Defekte konzentriert. Sie suchte nach dem, was Menschen unglücklich macht, was nicht funktioniert: schlechte Kindheit, Unterdrückung in der Arbeitswelt, schlimme Erfahrungen in der Ehe… Man hat sich auf Defekte fokussiert. Die Therapie versuchte dann die Defekte auszuschalten, das Unglück zu verringern. Indirekt sollte der Mensch dadurch glücklicher werden…

Aber direkt angepeilt wurde es nicht?
Bonelli: Nein, es war ein Neben­effekt. Im Gegensatz dazu steht heute die positive Psychologie von Martin Seligman. Er meint, es gehe darum, ins Auge zu fassen, was Menschen glücklich macht. Und dabei entdeckt er bei Aristoteles die Tugenden und nennt das Stärken. Im Grunde genommen spricht er von den vier Kardinal- und den drei göttlichen Tugenden, ohne sie so zu nennen. Durch Tugenden gelange man zu einem geglückten Leben.

Lässt sich das in der Therapie umsetzen?
Bonelli: Wenn heute ein Patient zu mir kommt und mir sagt, er möchte glücklich werden, ist mir das natürlich zu allgemein. Der Psychotherapeut muss an einem Problem ansetzen, das einem glücklichen Leben im Weg steht. Wenn also jemand sich fürchtet, aus dem Haus zu gehen, weil die Menschen ihn schief anschauen, ist das ein konkretes Problem, an dem man ansetzen kann.

Die Psychotherapie setzt also grundsätzlich an Defekten an…
Bonelli: Ja. Aber man kann die positive Psychologie verwenden, um herauszufinden, was die Ressourcen, die Stärken, die Tugenden des Menschen sind, auf denen man aufbauen kann. Ein Beispiel: Es kommt eine Patientin, die ihr Leben extrem mühsam findet, sich über den Unfrieden rundherum beklagt… Nach mehreren Stunden berichtet sie von einem Konflikt mit dem Bruder: Sie rede kein Wort mehr mit ihm. Er habe ihr geschrieben, sie sei eine notorische Lügnerin. Wir nehmen dieses Schreiben her, um herauszufinden, ob irgendetwas daran wahr sei. Nach weiteren Sitzungen stellt sich heraus: Eigentlich stimmt die Feststellung. Aufgrund dieser Einsicht konnte sie sich nun bemühen, die Tugend der Wahrhaftigkeit zu erlernen. Dabei merkte sie, dass das Leben nicht mehr so anstrengend war. Sie musste nicht mehr bei jedem Kontakt überlegen: Wen kennt der Betreffende und was habe ich diesen Leuten erzählt? Und bald konnte sie feststellen: Das Leben war viel einfacher geworden, das Problem gelöst.

Kann man Tugenden erlernen?
Bonelli: Ja, indem man bestimmte Handlungen einübt. Am Anfang fällt das schwer, aber es wird immer leichter, je mehr man sie einübt. Kürzlich hatte ich eine Patientin, mit der wir geübt haben, anders mit ihrem Mann umzugehen. Sie sagte, es sei alles so gekünstelt, wenn sie mit ihm nett sein sollte. Dann sage ich ihr: „Sicher, anfangs fühlt sich das so an. Aber mit der Zeit wird das besser.“ Es ist ein Ansporn, etwas Positives zu erlernen. Dieser Zugang ist besser als der, Negatives auszumerzen. Tugenden kann jeder erwerben. Sie sind keine Frage der Genetik, der Erziehung. Man kann sie auch unter schlechten Startbedingungen erlernen. Und wer tugendhaft zu leben lernt, wird auch eine gewisse Freude ausstrahlen. Nur die wirklich tiefe Freude wurzelt viel tiefer, nämlich darin, dass der Mensch sich als Geschöpf erkennt und sich in einem Leben einrichtet, das den Schöpfer anerkennt. Wenn man sich da richtig einordnet, kommt wahre Freude auf, weil man sich von Gott geliebt weiß. Diese tiefe Freude sehen wir bei Menschen, die wirklich mit Gott in Kontakt sind, die kontemplativ leben. Das ist eine ganz andere Dimension der Freude, zu der die Psychotherapie durch ihre Methode keinen direkten Zugang hat.

Merkt der Psychotherapeut bei gelungener Therapie am Aussehen der Patienten, dass sie nun glücklicher sind?
Bonelli: Ja, auf vielen Ebenen. Es gibt schwer depressive Menschen, deren Gesicht sich verändert, sobald man ihnen das richtige Medikament gibt. Da ändert sich alles: der Blick, die Ausstrahlung, die Freude. Das gelingt bei endogenen Depressionen, die es allerdings nicht so häufig gibt. Da habe ich „Wunderheilungen“ gesehen, die allerdings gar nichts Spirituelles an sich haben. Das ist rein chemisch.

Gibt es andere Fälle?
Bonelli: Ich erinnere mich an eine Frau, die zu mir gekommen ist, nachdem sie mein Buch Selber schuld gelesen hatte. Sie erzählte mir aus ihrem Leben: Verhältnisse mit verheirateten Männern, viel war schief gelaufen, sie ist allein geblieben… Auf meine Frage, ob sie religiös sei: „Nein, aber ich bin noch nicht aus der Kirche ausgetreten: man kann ja nie wissen...“ In der nächsten Stunde fragt sie, warum ich das wissen wollte. Das gehöre dazu, um mir ein Bild vom Patienten zu machen. Darauf sie: „Ein biss­chen religiös bin ich schon…“ Nach weiteren Stunden erklärt sie mir: „Ich habe ein dunkles Kapitel in meinem Leben entdeckt: Vor Jahren habe ich abgetrieben.“ Tränen. Das war das eigentliche Thema. Sie hatte es total verdrängt. Wir haben dann viel über das Kind und ihre Religiosität gesprochen. Daraufhin frage ich sie: „Was halten Sie davon, das mit einem Priester in der Beichte zu besprechen?“ Sie fand, das sei eine gute Idee. Und in der nächsten Stunde kam sie – 15 Jahre jünger, voll Freude, befreit, strahlend wie ein junges Mädchen – nach der Beichte. Beeindruckend. So etwas kann die Psychotherapie nicht.

Wird da eine andere Dimension angesprochen?
Bonelli: So einen großen inneren Frieden finde ich bei Menschen, die in der Anbetung sind. Ich beschäftige mich derzeit mit dem Thema Kontemplation, habe selbst vor eineinhalb Jahren mehr zu Anbetung gefunden. Hier stelle ich fest, wie der Mensch zur Ruhe kommt, alltägliche Probleme in den Hintergrund rücken. Menschen, die aus der eucharistischen Anbetung kommen, strahlen oft eine innere Freude aus, die die Welt eben nicht geben kann. Diese Freude ist etwas anderes als Befriedigung: ein gutes Eis essen, Spaß mit den Freunden haben. Dieses Wohlbehagen empfinden wir gewissermaßen auf der Ebene des Bauches. Befriedigung kann man auch auf der Kopfebene empfinden: wenn man ein tolles Buch gelesen, eine neue Erkenntnis gewonnen hat… Aber Anbetung, da haben wir es mit der Freude des Herzens zu tun. Da erlebt der Mensch das Glück, von Gott geliebt zu sein, sich Ihm hinzuschenken. Diese selbstlose Hingabe – sie ist ja von der Psychologie so oft verteufelt worden – macht glücklich.

Hat Kontemplation etwas mit Psychotherapie zu tun?
Bonelli: Sie ist relativ weit weg von klassischen therapeutischen Methoden und muss in die Welt des Patienten passen. Aber weil der Psychotherapeut ja voll auf das Wertesystem des Patienten eingeht, kann es bei einem religiösen Patienten schon dazu kommen, dass ich ihm sage: „Setzen Sie sich doch einmal in eine Kirche und schauen Sie, was passiert…“ Ruhig zu werden, kann im Menschen schon etwas bewirken. Wenn man einen Workaholic mal auf einen Berg schickt, ohne Handy, mit dem Auftrag, sich in aller Ruhe die Gegend anzuschauen, so ist das eine Gelegenheit, bei der auch areligiöse Leute manchmal religiöse Gefühle entwickeln. Denn auch hier haben wir es mit einer Form der Kontemplation zu tun. Der Mensch erlebt sich als Teil eines größeren Ganzen, bekommt ein Gefühl dafür, wo er in seinem Umfeld steht. Das eigene Ich wird etwas relativiert.
Kürzlich berichtete mir eine Patientin von einem schweren Streit mit ihrem Mann. Grund war ein nicht angesagter Besuch seiner Verwandten aus einem anderen Bundesland. Ihr Mann sei daraufhin mit den Gästen ausgegangen statt mit ihr zuhause zu bleiben. Wir haben dann versucht herauszuarbeiten, wie die Dinge aus der Sicht der anderen ausgesehen haben. Damit konnte sie dann ganz viel anfangen. Es gelang ihr, von sich, ihrer subjektiven Wirklichkeit und damit ihrer emotionalen Reaktion Abstand zu nehmen. Und genau das schafft die Kontemplation. Ein kontemplativer Mensch ist einer, der den richtigen Abstand von der Welt halten kann, der nicht im Affekt reagiert, sondern besonnen ist. Er kann sich zurücknehmen und hat dadurch einen inneren Frieden.

Abstand nehmen zu können, ist also ein Weg, um zum inneren Frieden zu gelangen…
Bonelli: Ja, Abstand von unmittelbaren, negativen emotionalen Reaktionen: von Hass, Ablehnung, Verachtung, Verbitterung… Wer solche Empfindungen einem Schöpfergott hinlegen kann, der reagiert nicht aggressiv. Man muss mit Emotionen umgehen lernen. Denn die Emotion selbst ist kein Maßstab für gut oder böse, richtig oder falsch. Es geht darum, die eigenen Emotionen zu bewerten. Und das gelingt, wenn man Abstand zu ihnen nimmt. Das sei nicht als Warnung vor Emotionen missverstanden! Sobald man sie als gut erkannt hat, soll man sie voll auskosten, vor allem die Freude.


Doz. Raphael Bonelli ist Psychotherapeut, Facharzt für Psychiatrie und  Neurologie. Er lehrt an der Sigmund Freud University in Wien. Mit ihm sprach  CG.

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