Ein Punkt. Nur ein einziger Punkt. Damals im Sommer 2002 habe ich die Lehramtsprüfung für Philosophie nur um einen winzigen Punkt verpasst: 44 Punkte in fünf Fächern. 45 wären notwendig gewesen.
So erreichte ich Platz 61 – und nur 60 Kandidaten wurden zugelassen. Ein Punkt, ein Platz! Also noch ein Jahr mit Mini-Jobs, ein Jahr Suche nach einem Ausgleich zwischen Lebensunterhalt und den Erfordernissen, um das angepeilte Lebensziel zu erreichen…
Mit hängendem Kopf verließ ich die in der Nähe der Sorbonne gelegene Schule, wo die mündliche Prüfung stattfand, und lief gedankenverloren durch die Straßen. Meine Schritte lenkten mich in den Jardin du Luxembourg. Dort ließ ich mich auf einem Sessel nieder, um mich meinem Schmerz hinzugeben und mit dem Schicksal zu hadern.
Rund um mich – ungeachtet meines Schmerzes – ein fröhliches Treiben. Ein Sommernachmittag ließ die Stadt erstrahlen. Sanftes Licht brach sich in den glitzernden Springbrunnen des Parks und strahlte auf den freudigen Gesichtern der Spaziergänger. Vögel putzten sich, Wasser verspritzend, in den Lacken, bis Kinder sie mit Freudenschreien aufscheuchten… Pariser aller Altersstufen, jeglicher Herkunft waren unterwegs. Das, was sie verband, war die Freude über die schöne Umgebung, diesen Moment der Gnade, des Friedens.
All das stand im krassen Gegensatz zu meinem Leiden und meiner Bitterkeit! Keine Rede davon, mich da anstecken zu lassen: Sahen denn all diese Menschen nicht, wie nahe ich an einer großen Erleichterung vorbeigeschrammt war? Keinem dieser glücklichen Menschen wäre es eingefallen, ihren Glückstrip kurz zu unterbrechen und mir freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen, um mich zu fragen, warum meine Miene denn so düster sei. Aber schlimmer noch: Unter all diesen Männern und Frauen sah niemand so aus, als trage er an einem Leid, das auch nur annähernd an mein Unglück heranreichte. Rundherum nur Glückseligkeit… War das nicht ungerecht?
Es sei denn! Es sei denn, dass diese unfassbare Gleichgültigkeit all dieser Leute meinem Unglück gegenüber für mich die größte Lektion werden könnte. Die Unbekümmertheit, mit der eines der Kinder sich einen Ball, der zwischen meinen Füßen gelandet war, geholt und mich angestrahlt hat, war vielleicht ein Zeichen der Vorsehung. Was für ein Zeichen? Was für eine Lehre?
Langsam drang sie in mich ein und sollte mich nicht mehr loslassen. Sie stellte mich vor eine Alternative, die, wie folgt lautet: Du stehst vor der Wahl, diese mangelnde Beachtung meiner Trauer durch meine Umwelt als Ärgernis zu interpretieren oder aber als verrückte Einladung, diese Freude zu teilen und mein Herz aufzumachen.
Mein Herz zu öffnen? Ja. Zu öffnen für diese Welt, von der ich ja nur zu gut merkte, dass ich nicht ihr Zentrum war: Sie ist auch ohne mich voller Freude, diese Welt, trotz meines Missmutes. Und da ich nicht die schreckliche Macht hatte, ihre Atmosphäre mit meiner üblen Laune zu verschmutzen, blieb mir nichts anderes übrig, als diese Laune zu relativieren. Ja, sogar zu lächeln und mich auf diese sommerliche Freude, die es rund um mich gab, einzulassen. Dem Kind, das seinen Ball holen kam, mit einem Lächeln zu antworten, war schließlich ein Akt der Höflichkeit.
Die Welt ist größer als mein Leid, größer als meine Bitterkeit, meine schlechte Laune. Ich darf sie nicht in meinen Kummer einsperren, sei er noch so groß. Dieser Gedanke erhellte mich wie ein Sonnenstrahl. Warum nicht das eigene Leid durch die Freude der anderen relativieren? So ertappte ich mich dabei, mich plötzlich über die Freude der anderen zu freuen. Es machte nichts aus, dass es zunächst nicht meine Freude gewesen war, denn, indem ich die Freude der anderen teilte, wurde sie zu meiner.
Zu lieben bedeutet, sich über das Glück der anderen zu freuen: Diesen Satz des deutschen Philosophen Leibnitz hatte ich für die fehlgeschlagene Prüfung auswendig zu lernen gehabt. Jetzt machte er plötzlich Sinn. Jetzt hatte ich ihn mit dem Herzen begriffen! Auf meinem Sessel am Nachmittag im Jardin du Luxembourg begriff ich damals langsam: Wer seine Freude aus jener der anderen schöpft, kann sie nicht mehr verlieren.
Diese kleine Einsicht habe ich in die Ferien, die damals anbrachen, mitgenommen. Und ich beschloss, ein Jahr lang mit den Mini-Jobs aufzuhören, bescheiden zu leben – und nicht mehr für die Lehramtsprüfung zu lernen, sondern gleich eine „agrégation de philosophie“ (Eignungsprüfung für den höheren Sekundarschuldienst) anzusteuern. Am 15. Juli 2003 habe ich die Prüfung bestanden, als Viertbester landesweit. An dem Tag habe ich mich wirklich über die drei Kandidaten gefreut, die besser waren als ich.
Der Autor hat 2013 den Preis „Humanisme chrétien“ für sein Werk „Petit Traité de la joie“ (Kleine Abhandlung über die Freude, Vlg Salvator) gewonnen, sein Beitrag ist ein Auszug aus „Famille Chrétienne“ Nr. 1854