VISION 20006/2014
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Alphonse Marie de Ratisbonne

Artikel drucken Botschaft an uns (Von Dom Antoine Marie OSB)

Meine Familie ist recht bekannt, denn sie ist reich und wohltätig. In beiderlei Hinsicht nimmt sie im Elsass seit langem den ersten Rang ein.“ Der 1814 geborene Alphonse war das jüngste von 10 Kindern. Das Familienoberhaupt, Auguste Ratisbonne, gehörte einer Generation von Juden an, die nur nach irdischem Lebensgenuss strebte; obwohl er Vorsitzender des Ältestenrates war, ließ er sich nur selten in der Synagoge blicken. Die Kinder wurden zwar nicht im israelitischen Glauben, aber doch in der jüdischen Tradition erzogen. Alphonse verlor bereits im Alter von vier Jahren seine Mutter.
1825 kam Alphonse auf die höhere Schule in Straßburg. „In jener Zeit hatte meine Familie einen harten Schlag zu verkraften. Mein (um zwölf Jahre älterer) Bruder Théodore wurde Christ und bald danach – trotz aller inständigen Bitten – Priester; er übte sein Amt in unserer Heimatstadt unter den Augen der Familie aus. Sein Benehmen fand ich empörend, und ich hasste sowohl seine Kleidung als auch sein ganzes Wesen…“ Ein Jahr nachdem sein Vater gestorben war, legte Alphonse 1831 erfolgreich die Abiturprüfung ab.
Ein kinderloser Onkel wurde sein zweiter Vater. „Dieser in der Finanzwelt recht bekannte Onkel wollte mich an die Bank binden, die er leitete. Ich studierte in Paris Jura und kehrte hinterher zu ihm zurück. Er ließ mir alle Freiheit. Ich dachte, man sei auf der Welt, um sie zu genießen ... Auf dem Papier war ich zwar Jude, aber ich glaubte nicht einmal an Gott.“
1841 wurde Alphonse 27 Jahre alt. Die Familie beschloss, ganz in seinem Sinne, ihn mit einer seiner Nichten zu verheiraten. Er feierte seine Verlobung in Nizza, doch in seiner Seele blieb danach eine gewisse Leere zurück. „In der Ablehnung allen Glaubens war ich mit all meinen Freunden einig; doch der Anblick meiner Braut weckte etwas in mir, das mich an die Unsterblichkeit der Seele glauben ließ; mehr noch, ich begann instinktiv, zu Gott zu beten; ich dankte ihm für mein Glück, und doch war ich nicht glücklich.“ Da das Mädchen erst 16 Jah­re alt war, wurde die Hochzeit verschoben. Alphonse brach zu einer Reise in den Orient auf.
Am 8. Jänner traf er auf der Straße in Rom einen ehemaligen Mitschüler. Alphonse wurde von ihm zum Abendessen eingeladen und traf dabei dessen älteren Bruder, Théodore de Bussierre, der vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert war: „Das reichte schon, um eine tiefe Antipathie in mir zu wecken; doch da Théodore für seine Reiseberichte aus dem Orient berühmt war, sagte ich ihm, dass ich ihn gern besuchen würde.“
Obwohl sein Besuch bei Théodore de Bussierre ihm nun wie eine „lästige Pflicht“ vorkam, suchte er ihn trotzdem auf. Von diesem Besuch erzählt Théodore später: „Ich sprach ihn auf seine Streifzüge durch Rom an. Er erzählte von seinen Eindrücken ... Vom Ghetto, in dem sein Hass auf den Katholizismus wieder aufgeflammt war. Ich versuchte, ihm gut zuzureden, doch er erwiderte, er sei als Jude geboren und werde als Jude sterben ... Da kam mir eine äußerst ungewöhnliche Idee: ‚Da Sie innerlich so gefestigt sind, versprechen Sie mir, dass Sie das, was ich Ihnen gleich gebe, bei sich tragen werden.‘ – ‚Was denn?‘ – ‚Diese Medaille.‘ Und ich hielt ihm eine wundertätige Medaille hin ... Er zuckte zurück. ‚Aber nach Ihrer Sichtweise müsste es Ihnen doch völlig gleichgültig sein, und mir würden Sie eine Freude machen.‘ – ‚Wenn es nur das ist‘, rief er laut lachend. ‚Ich will Ihnen zumindest beweisen, dass man die Juden zu Unrecht der Verstocktheit bezichtigt.‘... Ich hatte noch etwas weitaus Schwierigeres vor: ihn überreden, das Memorare zu sprechen, das Gebet des heiligen Bernhard, das mit den Worten beginnt: ‚Gedenke, gütigste Jungfrau Maria‘. Das ging ihm zu weit. Doch eine innere Stimme ließ mich weitermachen ... Ich drückte ihm das Gebet in die Hand und bat ihn, es wenigstens mitzunehmen und so gut zu sein, für mich eine Abschrift zu machen, da ich kein zweites Exemplar besäße. Ironisch erwiderte er: ‚Gut, ich werde es abschreiben, Sie behalten meine Kopie und ich nehme Ihr Exemplar!‘ Ins Hotel zurückgekehrt, begann Alphonse das Gebet abzuschreiben…
Am 20. Jänner betrat Alphonse ein Café an der Piazza di Spagna und traf dort zwei Elsässer. „Als ich aus dem Café trat, erblickte ich Herrn de Bussierre, der mich in seine Kutsche einlud. Ich nahm das Angebot mit Freuden an. Er bat mich, ein paar Minuten bei Sant’Andrea delle Fratte anhalten zu dürfen, und schlug mir vor, im Wagen zu warten; ich stieg lieber mit aus, um mir die Kirche anzusehen … Die Kirche Sant’Andrea ist klein, ärmlich und verlassen ... Ich ließ meinen Blick herumwandern, ohne an etwas Besonderes zu denken; ich erinnere mich nur an einen schwarzen Hund, der vor meinen Füßen herumsprang. Bald sah ich nichts mehr oder vielmehr, o mein Gott, ich erblickte plötzlich etwas!!!... Wie soll ich das beschreiben? O nein, die menschliche Sprache kann nicht einmal versuchen, das Unbeschreibliche zu beschreiben ... Ich lag da, auf dem Boden ausgestreckt, zerfloss in Tränen, mein Herz war außer sich.“
„In der Kirche,“ berichtet de  Bussierre, „sah ich Ratisbonne in einer zutiefst andächtigen Haltung vor der Kapelle des hl. Michael und des hl. Raphael knien. Ich trat zu ihm und schüttelte ihn mehrfach, doch er merkte gar nicht, dass ich da war. Schließlich wandte er mir sein tränennasses Gesicht zu, faltete die Hände und sagte: ,Oh, was hat dieser Herr für mich gebetet!‘ Er meinte den Verstorbenen, dem ich drei Tage zuvor mein Herzensanliegen anvertraut hatte; er hatte mir erwidert: ‚Wenn er einmal das Memorare betet, dann haben Sie ihn – und viele andere mit ihm.‘ – ‚Wo möchten Sie hin?‘, fragte ich Alphonse. ‚Wohin Sie wollen. Nachdem, was ich gesehen habe, gehorche ich ... Ich bin so glücklich! Welche Fülle der Gnade und des Glücks für mich! Wie gütig ist Gott! Und wie unglücklich sind diejenigen, die das nicht wissen!‘ Er bedeckte die wundertätige Medaille, die er bei sich trug, mit Küssen und Tränen. Dann nahm er mich in die Arme und sagte mit leuchtendem Antlitz: ‚Bringen Sie mich zu einem Beichtvater. Wann kann ich die Taufe empfangen, ohne die ich nicht länger leben kann?‘
Die Seele des Konvertiten war nun vom brennenden Verlangen nach der Taufe erfüllt, er wollte vom Makel der Erbsünde befreit werden. Manche rieten zum Abwarten. „Aber wieso?“, hielt er ihnen entgegen. „Die Juden, die den Aposteln folgen wollten, wurden auf der Stelle getauft.“
Seine Familie hatte versucht, die Taufe zu verhindern: „Es ist eine abscheuliche Sache, den Glauben seiner Vorfahren zu verleugnen!“ – „Ach!“ erwiderte Alphonse. „Ich lehne nicht den Glauben Abrahams und Moses ab, ich lehne nicht die Weissagungen Jesajas und Malachias ab, ich lehne weder David noch Salomo ab ... Aber ich lehne Judas ab.“
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts publizierten zwei ursprünglich jüdische, dann bekehrte und zu Priestern geweihte Brüder, Augustin und Joseph Lémann, die Ergebnisse ihrer sorgfältigen Untersuchung der Heiligen Schrift: „Wird ein Jude Katholik, so wechselt er nicht seine Religion: Er ist der religiöse Mensch par excellence, dem Vollendung zuteil wird ... Das neue Gesetz ist nur die Erfüllung und Vollendung des alten Gesetzes; bei beidem ist derselbe Gott Gesetzgeber, bei beidem ist Jesus Christus Mittelpunkt und Ziel des Gesetzes.“
Die Nachricht des Bekehrungswunders verbreitete sich damals bis in die protestantischen Länder hinein und führte zu einem Wiederaufleben der Marien-Verehrung und zahlreichen Bekehrungen. Am 14. Juni trat Alphonse ins Noviziat der Jesuiten in Toulouse ein und war 10 Jahre lang Mitglied der Societas Jesu.
In der Zwischenzeit ging sein Bruder, Abbé Théodore,  daran, seinen innigsten Wunsch zu verwirklichen: „Geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Er gründete in Jerusalem erst das Katechumenat für jüdische Kinder, dann die Sionsschwestern und schließlich die Brüder Unserer Lieben Frau von Sion. Alphonse Marie nahm Anteil an den Werken seines Bruders und unterstützte sie nach Kräften, soweit sein Gehorsamsgelübde es zuließ. Bald dachte er daran, den Jesuitenorden zu verlassen und sich seinem Bruder anzuschließen. Im Dezember 1852 wurde er von seinen zeitlichen Gelübden entbunden und schloss sich den Sionsbrüdern an.
Die beiden Brüder wollten selber Ausgeschlossene sein ... zum Besten ihrer Brüder, aus denen dem Fleische nach Christus stammt. Théodore starb am 7. Januar 1884 in Paris, Alphonse Marie am 6. Mai 1884 in Jerusalem. Sein letztes Wort - „Gott ist mein Zeuge, dass ich mein Leben für das Heil Israels opfere“ - ging auf das Wort des heiligen Paulus zurück: Der Wunsch meines Herzens und mein Flehen zu Gott geht um sie und ihr Heil .

Der Autor ist Abt voni Saint-Joseph-de-Clarival, sein Beitrag ist nachzulesen auf: www.clairval.com

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