Wenn wir das Wort Berufung betrachten, entdecken wir sogleich, daß darin der Ruf enthalten ist. Nun - wo ein Ruf ist, dort ist immer auch ein Rufer und ein Angerufener - einer, der spricht und einer, der vernimmt, der hört.
"Höre, Israel...!" Wie oft lesen oder hören wir dieses Wort aus dem Alten Testament. Jesus selbst nimmt es in den Mund, als Er die Frage eines Schriftgelehrten nach dem wichtigsten Gebot beantwortet: "Das erst ist: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden." (Mt 12,29-31)
Jesus sieht, daß der Schriftgelehrte ihm darauf mit Verständnis antwortet und fügt hinzu: "Du bist nicht fern vom Reich Gottes." (Mk 12,34)
Was hat das nun mit Berufung zu tun? Ich glaube, in dieser Begegnung spricht Gott durch Seinen Sohn, das ewige Wort, die universale Berufung des Menschen aus: ins Reich Gottes zu gelangen - auf dem Weg der Liebe, Gott und den Nächsten zu lieben. Diese Berufung gilt für uns alle. Es ist quasi das Sprungbrett, das Trampolin, von dem aus jeder von uns wegspringen muß. Nun sind aber die Richtungen sehr verschieden, in die wir gleichsam "emporschnellen".
Es gibt den speziellen Ruf, den der einzelne in seinem Herzen vernimmt - ja, wenn er ihn vernimmt. Die heutige Welt der Geräusche, des Lärms, der Schnellebigkeit, hat den Menschen zusehends stumpf, beinahe taub, gemacht, innerlich (oft bereits auch schon äußerlich) zu hören.
Die Kultur des Innehaltens, des Schweigens droht verlorenzugehen.
Dies ist vielleicht das eine Hindernis, Gottes Stimme, Seinen Ruf, zu vernehmen. Ein zweites scheint mir in der Zaghaftigkeit derer zu liegen, die Gottes Stimme in ihrem Leben bereits eindeutig vernommen haben. Ihr Sprechen von Gott - das natürlich immer aus einem Sprechen mit Gott kommen muß - wäre oft so notwendig, damit ein anderer Gottes Stimme, Gottes Ruf, hören kann. Freilich geht es dabei nicht um manipulative Suggestivphrasen, sondern um ein dem anderen dienendes Mithören auf das, was Gott in diesen hineingelegt hat. Wichtig ist das liebende Mitteilen der eigenen Hörfähigkeit auf Gottes Stimme, aber eben nicht nur auf psychologische Art und Weise (die gut und notwendig ist), sondern vor allem auf theologale Weise, die Gott in den Mittelpunkt rückt.
Wozu hat Gott mich gerufen? Wozu hat Gott diesen oder jenen Menschen gerufen?
Das 12. Kapitel des ersten Korintherbriefes zeigt so deutlich die verschiedenen Gnadengaben, Dienste, Kräfte, die den einen Leib aufbauen: Apostel, Lehrer, Ärzte, Propheten... Paulus zählt die verschiedenen Dienste auf. Wichtig ist, daß es sich dabei um Dienste handelt - jede Gabe ist uns für den ganzen Leib gegeben, also zum Dienen.
Gott ruft durch Seine Gnadengaben in den Dienst. Berufung ist immer Berufung zum Dienen! Jeder Beruf ist also ein Dienst. Auch das scheint in unserer heutigen Leistungs-, Wohlstands- und Selbstverwirklichungsgesellschaft verlorengegangen zu sein. Nicht mehr die Frage nach den persönlichen Begabungen, sondern ökonomische und Karrierefragen stehen im Mittelpunkt, wenn es um die Berufswahl eines jungen Menschen geht.
Außerdem haben wir in unserer Gesellschaft eine Wertung vorgenommen, die den intellektuellen Gaben meist den Vorrang vor den manuellen oder anderen Gaben einräumt. Bei Gott ist das nicht so: Er hat den Menschen Gaben gegeben, damit sie einander ergänzen.
In der Begabung liegt bereits ein Ruf, auch aus negativer Sicht: Wozu ich nicht begabt bin, dazu bin ich wohl auch nicht berufen. Vieles läßt sich freilich im Leben erlernen - aber eben nicht alles. Wir müssen es Gott erlauben, uns zu determinieren.
Er ist der Töpfer, wir sind der Ton! (vgl. Jer 18,6)
So wie Gott den Mann als Mann, die Frau als Frau erschaffen hat - determiniert hat -, so hat Er uns zu einer bestimmten Lebensform und darüber hinaus zu einem ganz bestimmten Dienst erschaffen. Natürlich ist es einfacher festzustellen, ob ich ein Mann oder eine Frau bin, als festzustellen, ob ich zum ehelosen Leben oder zur Ehe, zum Arzt oder zum Priester, zum Gemeinschaftsleben oder zum Alleinstehen vor Gott berufen bin.
Niemand bekommt diesbezüglich von Gott einen eingeschriebenen Brief - aber Gott schreibt uns, spricht zu uns, läßt sich von uns erblicken... durch die Realität, in der ein Mensch lebt. Oft schweigt Er zu einer Sache und macht dies zu Seiner Sprache.
Um Gottes Stimme zu hören, muß ich loslassen von meinen Wertungen und Erwartungen, sonst mache ich mich taub für die Stimme Gottes. Wenn ich von vornherein eine bestimmte Lebensform (sei es die Ehe oder die Ehelosigkeit, das Gemeinschaftsleben...) ablehne, habe ich ja schon selbst zu mir gesprochen.
Ich kann Gott bitten um Wegweisung, um ein inneres Licht, um einen Menschen, der mir hilft zu unterscheiden - die Bereitschaft anzunehmen, was Er mir dann sagt, liegt aber bei mir ganz allein. Sie ist Teil meiner Freiheit vor Gott. Gott beruft, aber Er zwingt nicht.
Viele junge Menschen stehen heute vor dem Dilemma der Unentschiedenheit. Im Grunde ihres Herzens haben sie Gottes Stimme vernommen, aber eine Entscheidung zu treffen, dies macht ihnen oft sehr zu schaffen. Darin scheint mir, eine weitere Schwierigkeit zu liegen, die den Menschen von heute an seiner persönlichen Berufung hindert.
Entscheidung hat immer etwas mit Bindung und Bund zu tun - und der Bindung, dem Bund, folgt der Begriff der Treue, gleichsam wie eine Zwillingsschwester. Immer noch gilt für uns Abendländer das dritte Aristotelische Axiom, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Entweder das eine oder das andere - eine dritte Möglichkeit, also ein Sowohl-als auch, gibt es nicht.
Wenn ich mich für das eine, also etwa die Ehelosigkeit, entscheide - und ich muß mich persönlich entscheiden, auch wenn ich von Gott gerufen werde - dann erstirbt gleichsam die andere Möglichkeit, in diesem Fall die Ehe, für mich.
Jede Entscheidung hat ein bißchen mit Sterben zu tun, je gewichtiger sie im Leben ist, desto intensiver ist dieses "Sterben". Ich sterbe für die andere Möglichkeit (ohne dies deswegen gering zu schätzen!) und feiere in der Bindung an die gewählte Möglichkeit mit Christus Auferstehung. Die Treue zu dieser Bindung wird mir durch diesen Tod und die Auferstehung geschenkt. Das gilt für die Ehelosigkeit genauso wie für die Ehe, für die Bindung an eine Gemeinschaft wie für die Entscheidung vor Gott für das solitäre Leben. In jedem Fall ist es ein Pascha - Tod und Auferstehung.
Darin liegt eine unendliche Freihei: Je entschiedener ich meinen Bund lebe, desto freier werde ich. Ganz einfach auch deshalb: weil das Band mein Leben zusammenhält, es formt. Ansonsten droht der Mensch innerlich zu zerfallen, was oft schmerzlich äußerlich sichtbar wird.
Zuletzt: Wir dürfen um jede Art von Berufung bitten, ja wir sollen es sogar: "Bittet den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden." (Mt 8,38)
Wie notwendig brauche wir Priester und Menschen, die um des Himmelreiches willen ehelos leben - wie notwendig brauchen wir aber auch gute Eheleute - wie notwendig ist uns jeder Dienst, ob intellektuell, manuell, karitativ, künstlerisch, usw... oder einfach der Dienst des Menschen, der nichts tun kann aufgrund etwa von Krankheit, Alter, Behinderung - der Dienst also des reinen Seins vor Gott, auch das ist ein Dienst, ein Ruf Gottes, eine Berufung.
Die Autorin ist Professorin an
einer Höheren Schule.