George Weigel, Erfolgsautor von Biographien über Johannes Paul II. und Benedikt XVI. sowie kenntnisreicher Beobachter des Geschehens in der Kirche, erläutert im folgenden Interview seine Vorstellungen von der notwendigen Neuevangelisierung:
In Ihrem Buch „Evangelical Catholicism“ sprechen Sie davon, dass eine Erneuerung der Kirche weder durch Anpassung an die Welt, noch durch eine Rückkehr zur tridentinischen Kirche möglich sei. Was wollen Sie damit sagen?
George Weigel: Der Katholizismus schlägt heute zwei Versionen der Reform vor. Die einen wollen eine laxere Reform, die anderen eine strengere. Aber beide erwecken nicht den Eindruck, auch nur irgendwie an Mission interessiert zu sein. Und dabei meine ich, dass jede Art von Erneuerung nur von der Wiederentdeckung des eminent missionarischen Charakters der Katholischen Kirche durch alle ihre Glieder ausgehen kann. Eine Kirche, die sich der Welt unterwirft, ist eine, die – wie es der jüdische Professor David Gelernter ausgedrückt hat – eine Religion à la carte predigt. Nur, wer ist an so etwas interessiert? In gleicher Weise wird eine Kirche, die zum Konzil von Trient zurückkehrt, von der Welt nicht ernst genommen werden, wenn sie den Menschen erklärt, sie bedürften der Rettung und das Evangelium habe die Antworten auf alle Fragen des menschlichen Lebens.
Was ist also die zentrale These Ihres Buches?
Weigel: Wir sind dabei, den Katholizismus der Gegenreformation hinter uns zu lassen und in die Ära der Neuevangelisierung einzutreten. Gemeinsam mit anderen bezeichne ich sie als „evangelikalen Katholizismus“. Damit meine ich eine Art von Katholizismus, der seinen Ursprung in den Reformen von Leo XIII. hat. Diese wurden vom 2. Vatikanischen Konzil fortgeführt und präzisiert. Die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben sie authentisch interpretiert. Diese evangelikale Art, katholisch zu sein, ist tatsächlich die Wiederentdeckung einer uralten Wahrheit: Die Kirche ist eine missionarische Jüngergemeinschaft. Wir treten ein in die Ära der Neuevangelisierung, die ich, wie andere auch, als evangelikalen Katholizismus bezeichne.
Insofern sie den Glauben dieser Gemeinschaft betrifft – worin besteht Ihrer Meinung nach das Herz dieser Reform?
Weigel: Benedikt XVI. ist nicht müde geworden, es zu wiederholen: Am Anfang der Kirche steht die Freundschaft mit Jesus Christus. Diese Freundschaft ist jedoch nicht mein Privileg. Sie fügt mich ein in die Gemeinschaft der Jünger, der anderen „Jesus-Freunde“, deren Lebensinhalt es ist, diese Freundschaft mit dem Herrn, die ihnen geschenkt worden ist, anderen anzubieten. In einer Kirche, die im Geist des Evangeliums reformiert worden ist, sind sich alle Gläubigen und alle Institutionen bewusst: Wir sind Missionare. Wer Jünger Christi ist, der gibt dies zwangsläufig an die anderen weiter. Das setzt eine Änderung der Mentalität voraus. Es geht um Folgendes: Eine Kirche, in der man sich auf die Aufrechterhaltung der Institutionen konzentriert, muss sich in eine vom Evangelium begeisterte Kirche wandeln – eine Kirche, die fortgesetzt im Zustand der Mission ist, wie es Papst Franziskus ausdrückt.
Apropos, welchen Stellenwert hat Papst Franziskus in Ihrer Vision?
Weigel: Evangelii Gaudium ist jenes Dokument, das die großen Linien des Pontifikats artikuliert. Es bringt klar den Wandel zum Ausdruck: das Auftreten einer dynamischen katholischen Geisteshaltung, die ich in Evangelical Catholicism beschreibe.
Kirchenreform – sagen Sie uns, worum es da eigentlich geht.
Weigel: Jede authentische katholische Reform ist eine Wieder-Aneigung. Das heißt, es ist ein Geschehen, bei dem etwas, was die Kirche vergessen oder verloren hatte, unter heutigen Bedingungen wieder zur Geltung gebracht wird. So gesehen ist Selbstbesinnung das Herz der Reform. Heute bedeutet diese Selbstbesinnung, dass man den großen Appell in Matthäus 28 wieder berücksichtigt: „Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (19-20)
Sie gehen in Ihrem Buch auf alle Lebensstände ein. Was sagen Sie den Eheleuten?
Weigel: In der gesamten ersten Welt sind Ehe und Familie in der Krise. Die katholische Kirche gibt überzeugend Antwort auf diese Krise. Man muss sich nur trauen, diese auch zu verkünden und zu bezeugen. Glückliche verheiratete, katholische Paare sind die bestmöglichen Zeugen der Kirche mitten in der Verwüstung, die der willfährige Gnostizismus des 21. Jahrhunderts angerichtet hat.
Welchen Schwerpunkt sollten die Priester setzen?
Weigel: Die Verkündigung, wie mir scheint. Wir leben in einer gnostischen Kultur, in der Menschsein als gestalt- und formbar angesehen wird. Das beste Gegenmittel gegen diese gnostische Sichtweise, welche die Realität verleugnet, ist der biblische Realismus. Daher ist eine in der Schrift verankerte Verkündigung ein Gebot der Stunde. Sie muss sowohl den Glauben der Missionare – also der Leute – vertiefen und ihnen gleichzeitig die Augen öffnen, damit sie die Dinge klar erkennen. Wenn ich Dinge sage, so meine ich beispielsweise das Mann- und Frausein und die fruchtbare Ergänzung, die in dieser Gegebenheit vorliegt. Es geht darum, mutig Zeugnis von der katholischen Vision von Ehe und Familie zu geben.
… und für die Bischöfe?
Weigel: Dem 2. Vatikanischen Konzil zufolge ist die vorrangige Aufgabe des Bischofs, Verkünder und Evangelisator zu sein. Damit stimme ich vollkommen überein. Bischöfe, die 75% ihrer Zeit mit administrativen Aufgaben verbringen, leben nicht nach der Sichtweise, die das Konzil für die Bischöfe entwickelt hat. In meinem Buch zeige ich, dass Johannes Paul II. als gelungenes Modell bischöflicher Leitungsfunktion gesehen werden kann.
Und was sind ganz allgemein die Voraussetzungen für lebendige christliche Gemeinschaften?
Weigel: Lebendig sind in der Weltkirche all jene Teile, die sich einer dynamischen Rechtgläubigkeit verschrieben haben, die dem Aufruf des Evangeliums zur Mission nachkommen und die die von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. vorgelegte Deutung des Konzils übernommen haben. Jene Teile der Kirche, die immer noch dem Jahr 1968 anhangen oder die sich in die selbst konstruierten Katakomben zurückgezogen haben, sind tot.
Auszug aus einem Interview, das Jean-Claude Bésida für Famille Chrétienne v. 24.3.15 geführt hat.