Beim Lesen in der Heiligen Schrift hat mich die folgende Stelle besonders berührt: "Jesus stieg auf einen Berg und rief die zu sich, die er erwählt hatte, und sie kamen zu ihm. Und er setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte, damit sie predigten und mit seiner Vollmacht Dämonen austrieben." (Mk 3,13-15)
Dieser Abschnitt beschreibt bekanntlich die Wahl der zwölf Apostel. Sie werden im Gefolge aufgezählt. Wir kennen ihre Namen: Petrus, Jakobus, Johannes... Was Markus da berichtet, betraf zwar historisch die Zwölf. Aber es scheint mir ein Geschehen zu sein, das sich seither millionen-, ja milliardenfach wiederholt hat und zwar bei all jenen, die der Herr aus allen Völkern und Nationen in Seine Nachfolge ruft.
Hier wird beschrieben, worauf der Ruf Gottes primär zielt: Diejenigen, die der Herr erwählt hat und ruft, will Er bei sich zu haben. Der Ruf, der an uns ergeht, ist die Einladung zu einer intimen Beziehung mit dem lebendigen Gott, das Angebot, in Seiner Nähe zu leben. Der Schöpfer des Himmels und der Erde, der allmächtige Gott, sehnt sich nach unserer Nähe.
Dieser Einladung zu folgen, darin sehe ich unsere Grundberufung: Aus der Gottferne in die intime Nähe des Herrn zu übersiedeln, um Freunde Gottes zu werden und unser Leben im Angesicht Gottes zu führen. Jesus Christus sendet die Jünger erst aus, nachdem sie diese Nähe erfahren haben, nachdem sie Seine Vertrauten geworden sind. Erst dann überträgt er ihnen konkrete Aufträge. Erst dann sind sie imstande, in Seiner Vollmacht zu handeln.
Gerade dieser erste Schritt, so scheint es mir, fällt uns Menschen der Leistungsgesellschaft besonders schwer. Heute erklärt man uns nämlich, daß jeder sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen habe. Und wir Christen haben dieses Verständnis vielfach übernommen. Wieviele von uns meinen daher, wir müßten die Sache Christi vorantreiben, müßten als mündige Christen in der Welt von heute agieren und die Kirche nach neuesten Einsichten aufbauen? Wir übernehmen das Konzept Christi - und jetzt machen wir etwas daraus.
Es stimmt schon, daß uns der Herr auch zu ganz bestimmten Diensten beruft - und zwar jeden von uns. Aber wir werden diese Dienste nur dann Seinem Willen entsprechend erfüllen, wenn wir wenigstens ansatzweise begriffen haben, daß Er der eigentliche Akteur ist - und daß wir gut daran tun, uns in Seine Hand zu geben. Und zwar allein schon aus ganz eigennützigem Interesse.
Wer an der Hand Gottes geht, wird von Dem geführt, Der nicht nur alles geschaffen hat, sondern auch alles in der Hand hält, alles durchschaut und Lösungen für alle Probleme - auch die unserer vielfach so trostlosen Zeit - kennt und fortgesetzt das Heil wirkt.
Daß uns dies viel zu wenig bewußt wird, liegt einzig und allein daran, daß wir zwar erwählt sind, aber nicht zu Ihm kommen - wie die Zwölf, von denen im Evangelium die Rede ist.
Hand aufs Herz: Kommt nicht den meisten von uns alles Mögliche viel wichtiger vor, als dem Gebet, dem Zusammensein mit Gott, Zeit einzuräumen. Eine Stunde pro Tag erscheint da schon als Heldentat. Und dabei sind das nur vier Prozent (!) der uns täglich zur Verfügung stehenden Zeit - für dieses so zentrale Geschehen in unserem Leben! Diese im Gebet gewonnene Vertrautheit mit Gott ermöglicht es dann, den Herrn in allen Kleinigkeiten des Alltags zu erfahren.
Sich den täglichen Herausforderungen in Seinem Geist zu stellen, ist nämlich Gottes Sendung für uns. Durch unseren Alltag hindurch wirkt Er unser und der Menschheit Heil - wenn wir uns in Dienst nehmen lassen.
Für den einen bedeutet das die konkrete Erfahrung, einen ganz bestimmten Weg zu gehen: Priester zu werden oder einen bestimmten weltlichen Beruf zu ergreifen, ein konkretes Werk zu beginnen oder eine bestimmte Person zu heiraten. Gott will zu unserem Heil die wesentlichen Weichen in unserem Leben stellen.
Das geschieht, wie die Zeugnisse in diesem Schwerpunkt zeigen, auf unterschiedlichste Weise. Der eine erlebt tiefe Gewißheit, der andere schreitet zögernd voran. Wesentlich ist das fortgesetzte Bemühen, die Wegweisungen Gottes zu erkennen und zu erfragen.
Die Antworten werden wie gesagt, nicht per Eilbrief geliefert. Und so bleiben wir meist darauf angewiesen, die Entscheidungen im Alltag scheinbar selbst zu treffen. Wer dies in der Grundhaltung tut, damit den Willen Gottes erfüllen zu wollen, kann jedoch darauf vertrauen, daß der Heilige Geist in ihm wirkt, auch wenn er dies subjektiv nicht spürt.
Aus dieser Haltung heraus zu leben, nimmt schwere Lasten von uns. Wir tragen dann nicht mehr die letzte Verantwortung für unser Tun. So verstehe ich auch, was der Herr uns im Matthäus-Evangelium (11,28f) zusagt: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele."
Wer auf den Ruf hört, in Gottes Nähe zu leben, muß sich letztlich nicht mehr ängstlich sorgen. Er weiß sich in Seiner Hand geborgen, denn der Herr nimmt uns von den Schultern, was für uns zu schwer ist und Er hilft uns tragen, was Er uns zu unserem und der anderen Menschen Heil zumutet.
Welche Hoffnung für eine Welt, die sich immer mehr Verantwortung aufbürdet und in ihren eigenen Konstrukten verstrickt, die mit jeder neuen Lösung weitere Probleme schafft und in der Sinnlosigkeitsgefühl sowie Resignation überhandnehmen!
Als Christen sind wir zur Hoffnung berufen, zum Vertrauen darauf, daß jenen, die Gott lieben, alles zum Heil gereicht.
Ein Mädchen, das sich auf die Firmung vorbereitet, schreibt mir:
Eine Überlegung macht ihr zu schaffen: "Jedesmal, wenn wir etwas Gutes machen, danken wir Gott." Heißt das etwa, daß wir nichts haben und Gott alles tut?
Hier berühren wir einen wichtigen Punkt. Wenn wir das falsch verstehen, ist der Blick auf unseren ganzen Glauben getrübt, gerät unser Glaubensleben aus dem Gleichgewicht. Wenn wir sagen, daß Gott in uns wirkt, muß klar sein, daß er uns nicht so manipuliert wie ein Puppenspieler seine Marionetten. Er belebt vielmehr unser Freiheit von innen her. Wir lernen, unseren Willen an Seinen zu binden, Ihm unser Leben zu weihen, den Heiligen Geist unsere Wünsche und Entscheidungen lenken zu lassen. Das setzt uns keineswegs herab. Im Gegenteil, es läßt uns wachsen. Unser Handeln ist dann sowohl Seines wie unseres. Gott wirkt in uns und wir handeln in Gott, so wie Christus, der nichts von sich aus tut: In aller Treue sagt er das, was der Vater Ihn gelehrt hat. Er vollbringt die Werke des Vaters (Joh 8,28). Das drückt der heilige Paulus in dem erstaunlichen Satz aus: "Seine Geschöpfe sind wir, in Christus Jesus dazu geschaffen, in unserem Leben die guten Werke zu tun, die Gott für uns im voraus bereitet hat." (Eph 2,10)
P. Alain Bandelier
Auszug aus Famille Chrétienne