Dieser Artikel ist ein Nachtrag zum Schwerpunkt der letzten Nummer: „Tod – wo ist dein Sieg?“ Es geht darin um die „Kunst des Sterbens“, die im Grunde genommen ja die Kunst, richtig zu leben, ist.
Seit einiger Zeit liegt die Lebenskunst wieder im Trend. Das bezeugen Sendungen in Rundfunk und Fernsehen, Buchveröffentlichungen, Artikel in Zeitungen und Zeitschriften sowie eine Fülle an Vorträgen und Seminaren. Es ist leicht verständlich, dass für die Ausrichtung und Qualität der angebotenen Lebenskunst der geistige Hintergrund der Autoren und Referenten eine beträchtliche Rolle spielt. Ein Buddhist wird sich darüber anders äußern als ein philosophischer Existenzialist, ein humanistischer Freidenker anders als ein gläubiger Katholik, denn die Auffassung vom menschlichen Leben, seinem Sinn und Ziel, ist ja jeweils grundverschieden.
Schon bei oberflächlicher Durchsicht erkennt man leicht, dass der größere Teil der Ratgeber zur Lebenskunst nicht von einem christlichen Standpunkt ausgeht. Neben flotten Animationsbüchern beherrschen weithin psychologisch und esoterisch geartete Veröffentlichungen den Markt. Und auch Autoren, von denen man aufgrund ihres Hintergrundes z.B. als Mitglieder eines altehrwürdigen Ordens der Kirche, als Priester und Theologe Substantielles zum Thema erwarten sollte, bieten uns oft nicht eine Darstellung aus der Perspektive der göttlichen Offenbarung, sondern wiederholen in gefälliger Form Nettigkeiten, für die der Sohn Gottes nicht am Kreuz hätte sterben müssen.
Vor allem aber sind die entsprechenden Lehren häufig durch eine auffällige Lücke gekennzeichnet: Sie sprechen wenig oder gar nicht vom Tod. Während schon der griechische Philosoph Aristoteles (+ 322 v. Chr.) darum wusste, dass man von einem Leben erst im Nachhinein sagen kann, ob es insgesamt geglückt und somit glücklich war, richten die heutigen Lebenskünstler den Blick vorwiegend auf einzelne Situationen oder Phasen, häufig auch auf den Augenblick, den es bewusst und achtsam zu leben gelte.
Sie schweigen hingegen über das Ende, von dem doch das eigentliche Leben, nämlich das Leben in Gottes Seligkeit, abhängt. Eine Lebenskunst aber, die nicht die unverrückbare Tatsache beachtet, dass es dem Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, und dass nach dem Tod das Gericht folgt (vgl. Hebr 9,27), wird entweder zum Allerweltsgeschwätz oder zu einem gefährlichen Ablenkungsmanöver von der eigentlichen Bestimmung und Aufgabe unserer Existenz.
Daher stand in christlich geprägten Zeiten die „ars moriendi“, die Kunst des Sterbens, immer in hohem Kurs. Weit entfernt davon, eine düstere, morbide Weltsicht zu fördern, galt sie im Gegenteil als wesentlicher Bestandteil jeder echten „ars vivendi“, jeder Lebenskunst. Man war davon überzeugt: Wer sein Ende vor Augen hat und seine Tage so einrichtet, dass sie eine Vorbereitung auf den Tod sind, der lebt richtig und glücklich. Mit dem Psalmisten spricht er wohl die ernsten Worte: „Tue mir doch kund, Herr, mein Ende und welches das Maß meiner Tage ist, damit ich erkenne, wie vergänglich ich bin“, aber er fügt auch mit tiefer, freudiger Zuversicht hinzu: „Und nun, worauf harre ich, Herr? Meine Hoffnung, sie liegt in Dir!“ (Ps 39,5.8)
Innerhalb der ars moriendi kommt der Sterbestunde eine Schlüsselposition zu. Sie ist der Augenblick, in dem sich die unsterbliche Geistseele vom Leib löst und der Mensch, während er den irdischen Pilgerstand hinter sich lässt, in die unveränderliche Sphäre Gottes eintritt. Hier hört die Wandelbarkeit der Person auf, es bleibt die endgültige Gestalt in ihrer Hinwendung zu oder Abwendung von ihrem Schöpfer und Erlöser, ihrem Ursprung und Ziel.
Daher entscheidet die Sterbestunde tatsächlich darüber, ob der Mensch zum ewigen Leben gelangt oder dem „zweiten Tod“ (vgl. Apk 2,11 u.a.) anheimfällt. Letztere Möglichkeit ist das Schlimmstdenkbare.
Man versteht, weshalb das Gebet um die Gnade eines „guten Todes“ so verbreitet war und teilweise noch ist. Besonders der heilige Josef wird in diesem Anliegen als Patron angerufen, da die christliche Überlieferung davon ausgeht, dass er in Gegenwart Jesu und Mariens gestorben ist. Die Allerheiligenlitanei lässt uns die wichtige Bitte aussprechen: „Vor einem plötzlichen und unvorhergesehenen Tod bewahre uns, o Herr.“ Nicht als ob wir fürchten müssten, der gütige Gott würde uns ausgerechnet in einem besonders ungünstigen Moment von dieser Welt vor Sein Gericht zerren! Vielmehr ist die Sterbestunde wohl normalerweise eine Art Summe des ganzen Lebens.
Doch wäre es reichlich vermessen, mit Blick auf das eigene Leben davon auszugehen, man hätte gleichsam das Recht auf ein seliges Hinscheiden erworben. Beispiele von Menschen, die lange ein gläubiges Leben geführt hatten, dann aber auf einer Abirrung vom rechten Weg gestorben sind, sollten uns eine heilsame Mahnung sein.
Was nun gehört zu einer guten Sterbestunde? Erste und wichtigste Bedingung ist, dass wir mit dem hochzeitlichen Gewand bekleidet sind, ohne das wir nicht in die ewige Herrlichkeit eintreten können (vgl. Mt 22,11-13). Der „Gnadenstand“, also die glaubende und liebende Verbundenheit mit Gott, die gnadenhafte Teilhabe an Seiner Natur (2 Petr 1,4), die wir in der Taufe empfangen und nötigenfalls im Bußsakrament wiedererlangt haben, ist die Voraussetzung für die ewige Lebensgemeinschaft mit Gott.
Ars moriendi bedeutet daher grundlegend das Bemühen, in der Beziehung zum Herrn zu bleiben, zu wachsen und gefestigt zu werden. Wie bedauerlich, dass Sterbebegleitung heute oft gerade von diesem Punkt ablenkt und versucht, jeden beunruhigenden Gedanken, auch den an Belastungen durch Sünde und Schuld, vom sterbenden Menschen abzuhalten. Viele unserer Heiligen haben tage- und nächtelang am Bett eines Todkranken verbracht und darum gerungen, ihn zu Reue und Bekenntnis zu bewegen. Sollten sie sich in ihrem Einsatz geirrt haben? Letztlich ist jedes In-sich-Gehen des Menschen, jede Gewissenserforschung und jede gute Beichte eine Vorbereitung auf den guten Tod und somit Ausübung der Sterbekunst.
Für einen ruhigen, friedvollen Hinübergang ist es darüber hinaus wichtig, dass in möglichst vielen Angelegenheiten des Lebens Ordnung geschaffen wurde. Wie belastend kann schon der Gedanke an unaufgeräumte Schubladen mit peinlichen Hinterlassenschaften für einen Sterbenden sein? Weitaus quälender noch drücken menschliche Beziehungen, die durch Fehlverhalten verkorkst worden sind, ohne dass ein klärendes Wort gesprochen, ein Schritt zur Versöhnung unternommen, die Bitte um Verzeihung geäußert oder das Angebot der Vergebung unterbreitet worden wäre. Dies alles hier und jetzt schon anzugehen bedeutet, die ars moriendi zu erlernen. Wer solche bisweilen unangenehmen Dinge hingegen immer weiter vor sich her schiebt, der bereitet sich damit Schwierigkeiten, die ihm vielleicht im Sterben sehr zusetzen werden.
Was man ebenfalls schon lange, bevor das Stündlein schlägt, im Blick darauf tun kann, ist jene Übung, die in früheren Zeiten durch Darstellung von Totenschädeln, Gerippen und dergleichen sowie durch die Inschrift „Memento mori“ angemahnt wurde: „Gedenke, dass du sterben musst!“ Nicht nur am Aschermittwoch sollen wir uns daran erinnern, dass wir vom Staub der Erde genommen sind und zum Staub zurückkehren werden. Der heilige Benedikt verlangt von den Mönchen sogar, täglich den unberechenbaren Tod vor Augen zu haben. Und im Alten Testament wird der Zusammenhang zwischen dem Memento mori und einem gottgefälligen Leben deutlich ausgesprochen: „Denke an die letzten Dinge und lass ab von der Feindschaft, denke an Verwesung und Tod und bleibe den Geboten treu.“ (Sir 28,6)
Recht betrachtet, bietet uns der Abschluss eines jeden Tages die Gelegenheit, uns in das Sterben einzuüben. Wenn wir uns dem Schlaf überlassen, so ist dieses Geschehen ja dem Hinübergang im Tod sehr ähnlich: Wir legen uns nieder, verlieren nach und nach die Kontrolle über den Leib und die seelischen Akte und treten in einen Zustand ein, der von dem des Tagesbewusstseins grundverschieden ist.
In ihrer Weisheit hat die Kirche daher ihr Nachtgebet, die Komplet, so eingerichtet, dass es einer Bereitung für den Tod gleicht. Nach Schuldbekenntnis und Bitte um Vergebung folgen darin heilige Psalmworte, an die sich der Hymnus, das Sterbegebet Jesu „In Deine Hände, Herr, empfehle ich meinen Geist“, der Abschiedsgesang des greisen Simeon und, ganz am Ende, die Marianische Antiphon anschließen.
Wäre es nicht der Idealfall, wenn so auch die Komplet unseres Lebens aussehen könnte? Bei Maria finden wir am Ende des Tages wie des Erdenweges wahre, tiefe Geborgenheit. Sie ist die große Lehrerin der ars moriendi, die wir deshalb ungezählte Male anrufen: „Bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“
Der Autor ist Mitglied der Priesterbruderschaft St. Petrus und in deren Priesterseminar in Wigratzbad tätig.