Für behinderte Menschen wird heute einerseits viel getan: Man integriert sie ins Schulsystem, baut rollstuhlgerechte Einrichtungen, führt sportliche Wettbewerbe für sie ein. Anders sieht aber oft der Umgang mit ihnen im Alltag aus.
Wir lesen am Anfang der Heiligen Schrift: „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich.“ Jeder Mensch, ob gesund, krank oder behindert, ist von Gott gewollt und geliebt, und die Würde haben wir von Gott, weil wir Kinder Gottes sind! Die Würde des Menschen kommt also von Gott!
Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes und hat von Ihm Würde bekommen. Der Mensch ist einmalig, nicht nur der katholische. Jeder behinderte Mensch hat dieselbe Würde wie der gesunde, der getaufte dieselbe Würde wie der ungetaufte Mensch. Jeder Mensch hat Würde!
Woher kommt es, dass der behinderte Mensch oft nicht würdevoll behandelt wird?
Josefine erzählt: Ich bin Rollstuhlfahrerin und lebe im Altersheim. Das sind zwei Dinge, die zusammenpassen. Da muss man ja blöd sein, meinen viele. Das bekomme ich jedes Mal zu spüren, wenn ich ein Behindertentaxi brauche.
Wenn ich bei der Rettung anrufe und eine Fahrt zum Arzt oder zum Bahnhof anmelde, werde ich oft blöd angequatscht und die Fahrt gilt nicht als angemeldet. Oder: Wenn ich im Gasthaus mit Bekannten essen gehe und als einzige keine Speisekarte bekomme, dann sage ich: „Zum Lesen brauche ich keine Beine!“
Die Menschen haben durch die Nazi-Zeit nicht viel gelernt, immer noch wird oft während der Schwangerschaft von der Gesellschaft entschieden, welches Kind leben darf und welches nicht! Immer noch werden Menschen mit Behinderung vielfach nicht ernst genommen, ihre Talente und Fähigkeiten nicht gesehen und deshalb auch nicht gefördert! Es tut weh, wenn man von denen nicht ernst genommen wird, wo man am ehesten Verständnis erwarten würde.
Wir leben heute in einer (traurigen) Zeit, in der man meist nur nach Aussehen und finanziellem Nutzen bewertet wird. Dabei leidet oft die Seele des Menschen; sein Hunger nach Liebe, Geborgenheit, Gemeinschaft, Lebenssinn wird nicht wahrgenommen, ja missachtet. Der behinderte Mensch wird befürsorgt, abgeschoben und ausgegrenzt. Aber er hat ebenso wie der gesunde Mitmensch Fähigkeiten und Talente und ein Recht darauf, diese auszubilden und zu entfalten.
Die „Fraternität der kranken und behinderten Personen“ ist eine Gemeinschaft, der die Würde des Menschen wichtig ist. Sie fragt nicht nach Krankheit oder geistiger Einstellung, sie unterscheidet nicht nach Rassen oder sozialen Schichten. Sie lebt von der persönlichen Beziehung zwischen den Personen. Sie geht zu allen Menschen, um ihnen das Licht des Glaubens zu bringen und die Liebe Gottes zu verkünden! Pater Henri François, der Gründer der Fraternität, sagte treffend: „Der Kranke ist der Apostel des Kranken!“
Die Fraternität ist eine Laienbewegung, die aus dem Geist der geschwisterlichen Liebe des Evangeliums lebt und in die sich jeder selbst einbringt. In einer Gemeinschaft bist du nicht mehr allein und isoliert, du wirst mit deiner Würde als Mensch angenommen! Du lernst den anderen zu verstehen, und auch du wirst verstanden. Du bist wertvoll, und es erfüllt dich mit Freude, wenn du Talente entdeckst und deine Fähigkeiten für die Gemeinschaft einsetzen kannst.
Mancher sagt vielleicht: Ich habe keine Fähigkeiten, ich kann nichts tun. Das stimmt so nicht wirklich. So war etwa ein junger Mann, fußballbegeistert und nach einem Unfall im Rollstuhl, die Stütze seines Vereins. Nach jedem Spiel versammelten sich die Kameraden um ihn und besprachen Fehler und erzielte Erfolge. Er machte den Anfängern Mut und war das Gewissen der Mannschaft.
Oder: Eine Frau hatte mit drei Jahren Kinderlähmung. Sie wäre gerne Bäuerin gewesen und hätte auf den Feldern gearbeitet. Doch sie blieb zu Hause und versorgte die Kinder ihrer Schwester. Aber sie fühlte, dass ihr etwas fehlte. Als sie die Fraternität kennenlernte, veränderte sich ihr Leben radikal: „Ich war nicht mehr allein! Mein Horizont hat sich erweitert. Ich habe Gemeinschaft erlebt!“ Ihr Leben war jetzt durch die vielen Begegnungen mit wertvollen Menschen geprägt, die trotz schwerster Behinderung ihr Leben meisterten, die für ihre Mitmenschen da waren und durch ihre Lebensweise und ihren Glauben anderen Trost und Stütze gaben.
Die kranken und behinderten Personen sind Boten der Nächstenliebe; sie strahlen Freude und Frieden aus, anders als Menschen, die der Krankheit noch nie begegnet sind. Bei ihren Treffen wird kaum über die Krankheiten gesprochen, denn sie haben dieselben Interessen wie jeder gesunde Mitmensch. Wir dürfen behinderte Menschen nicht auf ihre Behinderung „reduzieren“.
Die Fraternität der kranken und behinderten Personen feiert heuer ihr 70-jähriges Bestehen. Sie wurde 1945 von P. Henri François gegründet. Der österreichische Zweig wurde von Martha Paster (Portrait Vision 2/89) ins Leben gerufen. Seit 2009 leitet Josefine Stelzhammer (Portrait 5/98) die Fraternität in Österreich.
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