Wenn vom „Geist der Aufklärung“ die Rede ist, dann hört man – so jedenfalls die offizielle Sprachregelung – nur Großes, Gutes und Schönes. Insbesondere in Frankreich hätte das 18. Jahrhundert mit Voltaire, Diderot, Rousseau, Montesquieu und Co endlich die Fackel der freien Meinungsäußerung entzündet, die Würde des Menschen entdeckt und befördert, die Einheit des Menschengeschlechts betont und mit dem Los der einfachen Leute mitgefühlt. Sie hätten mit den Vorurteilen bezüglich des Geschlechts und der Hautfarbe aufgeräumt, sich gegen den Absolutismus gestellt und den menschlichen Geist aus der Umnebelung des religiösen, insbesondere des katholischen Obskurantismus herausgeführt…
Liest man jedoch die Schriften der Philosophen, so stellt sich die Realität ganz anders dar: Sie ist entweder diametral entgegen gesetzt , jedenfalls aber ziemlich anders, jedenfalls weitaus „differenzierter“. Im Unterricht, in den Medien bleibt jedoch die oben erwähnte Scheinwelt prinzipiell allmächtig und allgegenwärtig.
(…)Seit etwa 20 Jahren hat eine bestimmte erneute Lektüre der Aufklärung ziemlich massiv dieser republikanischen Vulgata massiv zugesetzt (siehe unten angeführte Literaturliste, Anm.). Auf der Grundlage einer Unmenge von Zitaten zeigt sie schlicht und einfach auf, dass die Aufklärung in vielen entscheidenden Bereichen massiv das Gegenteil ist von dem, was man ihr zugute hält, tatsächlich also: Negierung der Einheit der Menschheit, ein leidenschaftliches Elitedenken, Verachtung für die Farbigen, für die Frauen, für die einfachen Leute, eine mechanische Sicht auf das Verhalten des Menschen (das berühmte „Der Mensch als Maschine“, 1747), also Leugnung des freien Willens und mechanistisches Konzept der zwischenmenschlichen Beziehungen, ein wissenschaftlicher Biologismus, der zum Rassismus und Antifeminismus neigt, mangelndes Vertrauen in die menschliche Vernunft (ja, wirklich!), Herabsetzung der einfachen Leute auf das Niveau von Tieren…
Diese strenge, wenn auch unvollständige Aufzählung bedürfte sicher der Nuancierung bzw. einzelner deutlicher punktueller Abschwächungen, sie fasst aber insgesamt recht deutlich die dominante Tendenz des Dossiers zusammen. (…) Über diese tiefgreifende, diametral gegenläufige, gut dokumentierte Richtigstellung in Sachen „wahre Aufklärung“ haben die großen Medien, wie erwartet, den Mantel des Schweigens gebreitet…
Der Autor ist emeritierter Professor der Université d’Angers und Autor zahlreicher einschlägiger Werke, u.a. Voltaire méconnu, Nature humaine et Révolution française, Naissance du sous-homme au cœur des Lumières : les races, les femmes, le peuple. Alle erschienen bei Dominique Martin Morin. Der Texte ist ein Auszug aus einem Interview, das Clémence Gidoin für L’Homme nouveau v. 4.7.15 geführt hat.