In zahlreichen Kirchen wurden „Heilige Pforten“ eröffnet. Sie laden ein, sich dem barmherzigen Wirken Gottes auszusetzen. Aber was bedeutet das: „Barmherzigkeit Gottes“ – und haben wir sie überhaupt nötig?
Womit beginnt die Heilige Messe und worum bitten die Menschen vor dieser Begegnung mit Jesus Christus? Um Vergebung, dann im „Kyrie eleison“ – „Herr erbarme dich“ – und vor der Vereinigung mit Christus in der heiligen Kommunion erinnern wir uns an das „Lamm Gottes“ und wiederum bitten wir um Sein Erbarmen. Was ist denn die Not, deretwegen wir Sein Erbarmen so notwendig brauchen, dass wir sie wieder und wieder erflehen?
Wir denken dabei nicht an den vielleicht schlechten Befund bei der letzten Gesundenuntersuchung, nicht an unser „rotes“ Bankkonto, nicht einmal an unsere gestörte Beziehung zu anderen Menschen, sondern nur an die eigentliche schwere Not, aus der wir weder durch Zufall noch durch eigene Anstrengung herausfinden können. Es geht um die Urnot des Menschen: seine Sünde, die gestörte Beziehung zu Gott, darum, dass wir so weit weg sind vom „ersten Gebot“, nämlich Gott zu lieben „aus allen unseren Kräften“!
Statt Ihn an die erste Stelle zu setzen, versuchen wir, uns wie mit Drogen glücklich zu machen und die Dosen zu steigern angesichts des ständig sich wiederholenden Frusts und der quälenden Einsamkeit. Und dabei versäumen wir, den zu erkennen, der uns glücklich macht wie den durstigen Hirsch, der endlich die Quelle erreicht hat! Wir hingegen verhalten uns angesichts des Wassers, das uns fehlt, wie ein Tourist, der einen Wasserfall kurz anschaut, „Toll!“ murmelt, fotografiert, weitergeht – und vergisst, was er gesehen hat.
Was wir benötigen bei den Bitten um Gottes Erbarmen wäre der erschütterte Ausbruch des Apostels Petrus (Lk 5,8), dem aufgeht, wer vor ihm steht: „Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder.“ Und doch weiß Petrus, es gibt keinen anderen, zu dem er gehen könnte: „Herr, zu wem sollen wir gehen, du hast Worte des ewigen Lebens.“ (Joh 6,68)
Es ist schon so: Solange wir auf dieser Erde leben, brauchen wir alle Gottes Erbarmen und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit gehört im jüdischen und christlichen Verstehen zum Wesen Gottes. Um dies zu veranschaulichen, hält Jesus keinen philosophischen Vortrag, sondern erzählt die Geschichte vom barmherzigen Vater (Lk 15,20): Der alte Vater (Gott) wartet auf seinen Sohn, der ihn im Unfrieden verlassen hat. Er gibt nicht auf, hält unermüdlich Ausschau. Dann aber, als er ihn endlich kommen sieht, läuft er ihm entgegen, umarmt ihn – und veranstaltet ein Fest.
Barmherzigkeit ist die Haltung Gottes zu Seinen geliebten Menschen. So wundert es nicht, dass Barmherzigkeit und Unbarmherzigkeit auch die Maßstäbe für das Gericht Gottes sind. Das sagt Jesus (Mt 25,31ff) in seiner Gerichtsrede über Schafe und Böcke.
Sogar Menschen, die in ihrem Leben Gott verachtet, sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht haben, erinnern sich in der Nähe des Todes des Gottes, den sie geleugnet, aber nicht vergessen haben: Grigory Sinowjew, Präsident der Kommunistischen Internationalen und Mitarbeiter Lenins hat vor seinem Tod ausgerufen: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Gott.“ Und Hans Frank, nationalsozialistischer Reichsminister, kurz vor seiner Hinrichtung 1946: „Ich nehme den Tod bewusst an als Sühne für das schwere Unrecht, das durch uns begangen worden ist. Aber ich habe das Vertrauen, dass die Barmherzigkeit Gottes auch uns noch rettet.“ Ähnlich auch Joachim v. Ribbentrop, NS-Außenminister, ebenfalls vor der Hinrichtung: „Ich hoffe, dass durch das Erlöserblut Christi auch mir noch Rettung und Barmherzigkeit zuteil wird.“
Auch vom großen Kirchenhasser Voltaire weiß man: Als er im Sterben lag, flehte er seine Umgebung verzweifelt an, sie sollten einen Priester rufen. Allerdings wurde ihm das verweigert. Denn in gesunden Tagen hatte er verfügt: Auch wenn er beim Sterben darum betteln sollte, dürfe man keinen Priester zu ihm lassen.
An dieser Stelle der Betrachtung erscheint es sinnvoll, sich an das Gebet zu erinnern, das Maria, die Muttergottes, die Seherkinder in Fatima gelehrt hat: „O mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden, bewahre uns vor dem Feuer der Hölle und führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.“
Damit sollten erstens fromme Leute gemahnt werden, um Bewahrung vor der Hölle zu beten. Und zweitens sollten wir alle staunen, dass dass es sich lohnt, für jene zu beten, die der Barmherzigkeit Gottes „am meisten bedürfen“, womit nur sehr schwere Sünder gemeint sein können. Und drittens: Dieses Gebet ist unvorstellbar trostvoll, wenn man an die erwähnten Verbrecher und andere, „die der Barmherzigkeit am meisten bedürfen“, denkt und sich bewusst macht: „Unmöglich, dass Maria dieses Gebet will, es aber nur ganz ausnahmsweise oder nie erhört wird!“
Dem Gott des Erbarmens steht der Teufel gegenüber. Zu dessen Gottes- und Menschenhass gehört es, kein Erbarmen zu kennen. Das gilt auch für jene, die ihm anhangen. Daher erscheint es nicht unglaubwürdig, dass Lenin, wie berichtet wird, verfügt haben soll, den Begriff „Barmherzigkeit“ aus allen Lexika zu entfernen. Wenn man den Atheismus zu Ende denkt, ist dies stimmig und es entspricht dem, was man von Lenins Taten weiß. Alexander Solschenizyn zitiert ein Telegramm Lenins: „Massenterror sofort einführen!“
Man kann das durchaus verstehen: Der Atheist sieht im Menschen kein Ebenbild Gottes mit dementsprechender Würde, keine Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung. Darum kennt er keine Barmherzigkeit und kann sie auch nicht wirklich üben. Wer einen Atheisten sozusagen dabei „erwischt“, barmherzig zu sein, erlebt, wie dieser schon begonnen hat, seinem Atheismus untreu zu werden. Er ist Zeuge der erfolgreichen, auch bekennende Atheisten umwerbenden Gnade Gottes! Ein „guter Samariter“ kann kein wirklicher Gottesleugner sein, auch wenn er dies von sich behauptet.
Seine Enzyklika Dives in misericordia eröffnet Papst Johannes Paul II. mit dem Satz: „Gott, der voll Erbarmen ist, wurde uns von Jesus Christus als Vater geoffenbart: sein Sohn selbst hat ihn uns in sich kundgetan und kennengelehrt.“ Warum kehrte Papst Johannes Paul II. (auch an anderen Stellen) immer wieder zu diesem Thema zurück? In der Einleitung zu seinem Text erklärt er sein Motiv: „Ein gewichtiges Erfordernis unserer ernsten und keineswegs leichten Zeit drängt mich dazu, mich noch einmal in das Geheimnis Christi zu versenken, um in ihm das Antlitz des Vaters zu entdecken, der der ,Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes ist’.“ Folgerichtig beschreibt er das Menschenbild der Kirche so: „Gott ist die Liebe, der Mensch ist geschaffen nach dem Bilde Gottes, also ist der Mensch für die Liebe geschaffen.“ (FC 11) Sein Nachfolger Papst Benedikt XVI. schreibt: „Das Programm des Christen, das Programm des barmherzigen Samariters, ist das Programm Jesu.“ (DC 31)
Jetzt hat Papst Franziskus die Botschaft seiner Vorgänger und der langen Geschichte Gottes mit seinen geliebten Menschen wieder aufgegriffen und ein „Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen. Er will nichts Neues sagen, sondern stellt sich mit großer Freude in die Tradition der Kirche, die er in seinem Schreiben Das Antlitz der Barmherzigkeit zusammenfasst: „Jesus Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters. Das Geheimnis des christlichen Glaubens scheint in diesem Satz auf den Punkt gebracht zu sein. In Jesus von Nazareth ist die Barmherzigkeit des Vaters lebendig und sichtbar geworden und hat ihren Höhepunkt gefunden.“
Aber… Ja es gibt ein „Aber“, nicht im Sinn der Kritik an der Kirche und am Papst, wohl aber ein wichtiges „Aber“ gegen die Verwirrung und den Missbrauch der Barmherzigkeit Gottes in der Verkündigung: Missbrauch, der sie scheinbar verstärkt und zu betonen scheint, in Wirklichkeit aber verwirrt und entstellt und zwar in folgender Weise:
Die erste Form des Missbrauchs: zu behaupten, das Alte Testament habe Gott als grausamen Gott der Rache und der Strafe gelehrt, erst im Neuen Testament verkünde Jesus den Gott der Güte. Man könnte zurückfragen: „Also haben sich die Propheten und alle anderen frommen Juden, auch Maria und Josef, Gott grausam vorgestellt? Glauben Sie das wirklich?“ Ja, es ist wahr, diese Fehldeutung hat es auch in katholischen Kreisen gegeben. David darf jedoch als einer der Kronzeugen gegen diese Fehldeutung gelten, wenn er, von seinem Gewissen gequält, sagt: „Wir wollen lieber dem Herrn in die Hände fallen, denn seine Barmherzigkeit ist groß; den Menschen aber möchte ich nicht in die Hände fallen.“ (2 Sam 24,14) Noch deutlicher widerlegt Jesaja (26,8) die heidnische, panische Angst vor dem Gericht eines angeblich grausamen Gottes: „Herr, auf das Kommen deines Gerichts vertrauen wir. Deinen Namen anzurufen und an dich zu denken, ist unser Verlangen.“
Zweitens: Das „Gericht“ Gottes ist kein Widerspruch zu Seiner Barmherzigkeit: Es ist Teil unseres Glaubensbekenntnisses und gehört zu unserer Hoffnung! Es ist nur als erlösend, Gerechtigkeit bringend richtig verstanden. Papst Benedikt (Spe salvi Nr. 41) zitiert in diesem Zusammenhang Adorno, einen der atheistischen Denker der Frankfurter Schule, der sagte: Als gerecht vorstellbar wäre nur eine Welt, „in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich Vergangene widerrufen wäre.“ Anders gesagt: Die Vorstellung, dass auch grauenhafte Verbrechen für immer ohne eine richtende Antwort Gottes blieben, wäre nicht barmherzig, sondern eine Form von Unbarmherzigkeit Gottes. So paradox es für viele klingen mag: Das Gericht Gottes ist auch Seine Barmherzigkeit!
Der dritte Missbrauch der Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes – heute sehr aktuell – besteht darin, sie von der Wahrheit zu trennen. Er begegnet überall dort, wo man im Namen der Barmherzigkeit Änderung der Gebote, die die Kirche im Namen Gottes verkündet, einfordert: Um barmherzig zu sein, solle der Papst, so sagt man, die Verhütung „erlauben“, Menschen in einer nicht-sakramentalen Verbindung zu den Sakramenten zulassen, Abtreibungen in Notfällen nicht „verbieten“, Homosexuelle heiraten lassen…
Dabei übersieht man: Diese Art von Barmherzigkeit erinnert an einen Patienten, der den Arzt bei der Ankündigung einer schmerzlichen Behandlung bittet, doch „barmherzig“ zu sein und ihn daher nicht zu operieren, ihm die Chemotherapie zu ersparen usw. Genau dieser Art von Irrtum unterliegen jene, die den Papst auffordern, etwas zu tun, was er weder darf noch kann. Denn er vermag die Wirklichkeit, die Natur des Menschen und ihre Gesetzmäßigkeiten nicht zu ändern. Auch der Papst kann das nicht, und dieses Nicht-Können hat mit Barmherzigkeit überhaupt nichts zu tun, sondern ist die Folge einer objektiven „Diagnose“!
Wir sollten uns selbst Barmherzigkeit erweisen, indem wir die Barmherzigkeit Gottes annehmen. Er, so erinnert Papst Franziskus, erweist uns Menschen Barmherzigkeit besonders in zwei Sakramenten: In der Beichte, durch die Gott uns von unserer schwersten Not, der Sünde, befreit und im Sakrament der Eucharistie, in dem Gott sich in unvorstellbarer Weise mit dem Menschen vereint! Diese Barmherzigkeit empfangen wir von Gott nicht nur passiv als Geschenk von außen, sondern auch aktiv wie in jeder Beziehung zu einem Anderen: Wir sind aktiv beim Empfangen der Beichte durch unsere Reue und Umkehr, wir sind erst recht aktiv beim Hintreten zur Heiligen Kommunion in unserer Andacht und Hingabe an den Herrn!
Wenn die Päpste wieder und wieder die Barmherzigkeit Gottes in die Welt hinausrufen, in unsere blutrünstige Zeit, geprägt von Terror, Kriegen, Abtreibungen, gottfeindlichen Ideologien, die Seine Schöpfungsordnung zerstören und sich auf Gottes Thron setzen wollen, dann ist das höchste pastorale Klugheit. Es ist wahrhaft zeitgemäß, also genau das, was unserer Zeit entspricht, was die Zeit braucht! Es ist, modern formuliert, „menschen-ökologisch“ richtig und „nachhaltig“ für unser Leben!