VISION 20002/2016
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Jerôme Lejeune

Artikel drucken Botschaft an uns (Von Dom Antoine Marie OSB)

August 1997: Johannes-Paul II. hält sich zum Weltjugendtag in Frankreich auf. Da kommt die Meldung, der Papst habe sein Reiseprogramm geändert: Er macht einen Abstecher nach Châlo-Saint-Mars, einem Dorf der Île-de-France, um das Grab seines 1994 verstorbenen Freundes Professor Lejeune zu besuchen.


Jérôme Lejeune war 1926 zur Welt gekommen. Als er mit 13 die Schriftsteller Pascal und Balzac entdeckte, prägte ihn das für sein ganzes Leben. Vom Helden des Romans Der Landarzt war er so fasziniert, dass er ebenfalls Landarzt im Dienste des einfachen Volkes werden wollte. Nach dem Krieg stürzte er sich mit Begeisterung in das Medizinstudium. 1951 verteidigte er erfolgreich seine Doktorarbeit. Noch am selben Tag entschied sich sein Schicksal in eine andere Richtung als geplant: Einer seiner Lehrer machte ihm den Vorschlag, an einem großen Werk über den „Mongolismus“ mitzuarbeiten, eine Krankheit, von der eines von 650 Kindern betroffen war. Jérôme stimmte zu.
Am 1. Mai 1952 heiratete er im dänischen Odense Birthe Bringsted, die zum Katholizismus konvertiert war und mit der er fünf Kinder haben sollte. Das Familienleben lag ihm sehr am Herzen. Während seiner Auslandsaufenthalte pflegte er jeden Tag einen Brief an seine Frau zu schreiben. Drei Kinder bereicherten bereits das Familienglück, als Lejeunes Vater ernsthaft erkrankte, Lungenkrebs. Das Sterben seines geliebten Vaters machte ihm bewusst, wie „unerträglich es ist, das Leiden geliebter Menschen mitanzusehen“. Sein Blick ging von da an tiefer: Im Antlitz eines jedes Patienten erkannte er Christus wieder.
Jérôme nutzte neue photographische Verfahren für den Nachweis, dass im Gewebe eines „mongoloiden“ Kindes ein zusätzliches Chromosom im Bereich des 21. Chromosomenpaars vorhanden war: die Ursache des „Mongolismus“, der ab da neben „Down-Syndrom“ auch „Trisomie 21“ genannt wurde. Im März 1959 wurde die Entdeckung bei der Académie de Médecine gemeldet. Im Oktober 1965 bekam Jérôme den ersten Lehrstuhl für Grundlagengenetik in Paris. Er blickte voller Hoffnung in die Zukunft: Seine Entdeckung würde die Forschung be­flügeln und zur Entwicklung einer Behandlung führen, um die Kranken zu heilen und ihren Eltern Hoffnung zu schenken. Angezogen von Jérômes internationalem Ruhm und seiner freundlichen Aufnahme wandten sich immer mehr betroffene Familien an ihn. Er behandelte mehrere Tausend Patienten, versicherte den Eltern, dass ihr Kind trotz seiner schwerwiegenden geistigen Behinderung ein überaus liebevolles und zärtliches Wesen entfalten werde.
Doch Jérôme sah – vor allem in der amerikanischen Ärzteschaft – eine Strömung auftauchen, die für die Vernichtung der ungeborenen Kranken durch Abtreibung plädierte. Mit Entsetzen merkte er, welche Gefahr seine Entdeckung für Trisomiekranke heraufbeschworen hatte. Um diese Form des Rassismus zu bekämpfen, schien ihm die Berufung auf die experimentelle Realität eine entscheidende Waffe zu sein. Denn sie zeigt jedem nicht voreingenommenen Betrachter, dass Lebewesen, die biologisch zur menschlichen Spezies gehören, nicht als artfremd betrachtet werden dürfen: Der Embryo ist ein Mensch.
August 1967: Professor Lejeune wurde zum 7. Weltkongress der israelischen medizinischen Vereinigung nach Tel Aviv eingeladen. Vorträge und Exkursionen wechselten sich ab; der erste Ausflug führte zum See Genezareth. „Ich betrat eine kleine geschmacklose Kapelle,“ berichtete Jérôme. „Ich warf mich auf den Boden, um die imaginäre Fußspur Dessen zu küssen, der dort gegenwärtig war.“ In diesem Augenblick überkam ihn ein unbekanntes Gefühl: „Als würde ein Sohn seinen geliebten Vater wiederfinden, einen endlich erkannten Vater, einen verehrten Meister, ein sakrosanktes, entblößtes Herz, es war etwas von all dem dabei und noch viel mehr.“ Alles schmolz im Feuer dieser glühenden Liebe dahin: Welt, Ehren, Erfolg, die Furcht vor dem Urteil anderer.
Im August 1969 wurde Jérôme Lejeune von der amerikanischen Gesellschaft für Genetik der „William Allen Memorial Award“ zuerkannt, die höchste Auszeichnung, die einem Genetiker verliehen werden kann. Bereits bei seiner Ankunft in San Francisco, wo die Preisverleihung stattfinden sollte, stellte Jérôme eindeutig fest, dass man die Legalisierung der Abtreibung von Trisomiekindern plante.
Jérôme bebte vor Empörung: „Durch meine Entdeckung habe ich diese schändliche Rechnung ermöglicht!“ Er würde aber sprechen! Die leibliche Natur der Menschen, erklärte er, sei vom ersten Augenblick an gänzlich in ihrem Chromosomensatz enthalten; diese Information mache das neue Wesen zu einem Menschen und nicht zu einem Affen oder Bären. Er schloss mit der klaren Feststellung: Die Versuchung, durch Abtreibung kleine, kranke Menschen zu töten, verstößt gegen das Sittengesetz, dessen Richtigkeit durch die Genetik bestätigt wird. Kein Applaus: feindseliges oder verlegenes Schweigen unter der Elite seines Fachs. Jérôme schrieb an seine Frau: „Heute habe ich meinen Nobelpreis für Medizin verspielt.“ Doch er war mit sich in Frieden.
Die Frage der Abtreibung bewegte nun ganz Europa; Großbritannien schloss sich den Vereinigten Staaten an, die die Früherkennung des Down-Syndroms und seine „Behandlung“ durch Abtreibung bereits legalisiert hatten. Die Medienkampagne in Frankreich wurde auf die Abtreibung aller unerwünschten Kinder ausgeweitet.
1973 wurde das Gesetzesvorhaben, das Abtreibung straffrei machen sollte, der Nationalversammlung vorgelegt. Angebliche Meinungsumfragen sollten belegen, dass die Hälfte der Ärzteschaft für die Freigabe der Abtreibung war.
Gleichzeitig wurden auf Initiative von Frau Lejeune 18.000 Unterschriften von französischen Ärzten gegen die Abtreibung gesammelt und veröffentlicht (das entsprach einer Mehrheit der Gesamtärzteschaft) – ein Beleg für die Falschheit der ganzen Medienkampagne. Bald schlossen sich den Medizinern die Krankenschwestern, dann die hohen Beamten, die Rechtsprofessoren, Juristen, über 11.000 Bürgermeister und Lokalabgeordnete an. Das Projekt wurde gestoppt. Ein Jahr später stimmte die Nationalversammlung dem „Gesetz Veil“, das die Abtreibung gestattete, jedoch leider zu.
Die Schikanen seitens der Verwaltung wurden verschärft, denen Jérôme seit der Verabschiedung des Gesetzes Veil insbesondere in Form von wiederholten Steuerkontrollen ausgesetzt war. Seine Forschungsgelder wurden gestrichen; er sah sich gezwungen, sein Laboratorium zu schließen. Über dieses Vorgehen empört, gewährten ihm amerikanische und englische Laboratorien Privatkredite ohne Gegenleistung; dank dieser Solidarität konnte er ein Team gleichgesinnter Forscher zusammenstellen.
Jérôme fasste 1991 seine „Überlegungen zur medizinischen Deontologie“ in sieben Punkten zusammen:
„1. ‚Christen, habt keine Angst!' Ihr seid im Besitz der Wahrheit, nicht weil ihr sie erfunden habt, sondern weil ihr sie vermittelt ...
2. Der Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Einzig und allein deswegen verdient er Respekt.
3. ‚Abtreibung und Tötung eines Kindes sind verabscheuungswürdige Verbrechen'.
4. Moral existiert objektiv; sie ist klar, sie ist universell, da sie katholisch ist.
5. Das Kind ist unantastbar, die Ehe unauflöslich.
6. Du sollst Vater und Mutter ehren: Die Reproduktion eines Elternteils durch Klonen oder durch Homosexualität ist nicht möglich.
7. Das menschliche Genom, das genetische Kapital des Menschengeschlechts, ist unantastbar.“
Es sei noch auf folgenden mutigen Satz hingewiesen: „In den sogenannten pluralistischen Gesellschaften liegt man uns ständig in den Ohren: ‚Ihr Christen habt nicht das Recht, eure Moral anderen aufzuzwingen!' Ich sage euch: Ihr habt nicht nur das Recht zu versuchen, eure Moral in die Gesetze eingehen zu lassen, sondern die demokratische Pflicht dazu!“
Am 5. August 1993 beschloss der Heilige Vater die Gründung einer Päpstlichen Akademie für das Leben; ihr Präsident sollte Professor Lejeune werden. Die Ernennung traf Jérôme unvorbereitet; er nahm sich einige Tage zum Überlegen, denn er fühlte sich sehr erschöpft.
Vor Allerheiligen konsultierte er einen befreundeten Arzt, Professor Lucien Israël. Dieser legte ihm ganz aufgelöst die Röntgenaufnahmen seiner Lunge vor: ein bereits fortgeschrittener Lungenkrebs. Jérôme fand sich ergeben in den Willen Gottes und mutig mit der Wirklichkeit ab. Er muss­te die Nachricht Birthe und den Kindern beibringen: „Bis Ostern braucht ihr euch keine Sorgen zu machen: Solange werde ich mindestens noch leben – und an Ostern kann einem nur Wunderbares widerfahren!“
Die chemotherapeutische Behandlung begann Anfang Dezember: sehr beschwerlich, wie er erwartet hatte. Dennoch nahm er weiterhin Telefonanrufe entgegen, um die Familien von Patienten zu trösten. Er informierte den Heiligen Vater über seinen Gesundheitszustand und schlug den Vorsitz der päpstlichen Akademie aus; die Antwort lautete, der Heilige Vater weigere sich, einen anderen zu ernennen. Jérôme schmunzelte: „Ich werde im Dienst der guten Sache sterben.“ Bis zuletzt arbeitete er an der Formulierung von Statuten für die Akademie. Er spürte seine Ohnmacht, doch sein Glaube zeigte ihm, dass selbst das Scheitern fruchtbar sein kann. Nie klagte er.
Als er am Mittwoch der Karwoche mit über 40° Fieber zu delirieren begann, wurde er mit palliativen Mitteln behandelt. Am frühen Morgen des folgenden Tages erlangte er wieder das Bewusstsein; am Karfreitag vertraute er dem Priester, der ihm die Sterbesakramente spendete, an: „Ich habe meinen Glauben niemals verraten.“ Von seinen Kindern gefragt, welches Vermächtnis er für seine kleinen Kranken habe, antwortete er: „Ich habe nicht viel, wisst ihr. So habe ich ihnen mein Leben gegeben. Und mein Leben ist alles, was ich hatte.“ Dann strahlte er und sagte zu den Seinen: „Wenn ich euch eine Botschaft zurücklassen kann, meine Kinder, so die wichtigste von allen: Wir sind in der Hand Gottes. Ich habe das mehrmals erfahren.“
Am Sonntagmorgen gegen sieben Uhr verschied er. Draußen begannen die ersten Glocken zu läuten: Es war der Tag der Auferstehung, der Tag des Lebens, der Tag ohne Ende. Denn Christus ist ewiges Leben (1 Joh 5,20)!
Am folgenden Tag schrieb Papst Johannes-Paul II. über Jérôme Lejeune: „Heute verneigen wir uns vor dem Tod eines großen Christen des 20. Jahrhunderts, eines Mannes, für den der Schutz des Lebens zum Apostolat wurde. Es ist klar, dass in der heutigen Weltsituation diese Form des Laienapostolats besonders notwendig ist.“ Am 28. Juni 2007 wurde der Seligsprechungsprozess von Jérôme Lejeune in Paris eröffnet.


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