Ob Gott existiert, ist kein Thema, das die psychologische Wissenschaft erforscht. Wohl aber registriert sie, was religiöses Leben psychologisch bewirkt. Im Folgenden die Gedanken eines Psychiaters zu diesem wichtigen Fragenkomplex.
Viele wissenschaftliche Studien zeigen, dass betende Menschen psychisch wesentlich gesünder sind als Atheisten. Heute wissen wir, dass Beter weniger Depressionen, weniger Süchte, weniger Ängste und vor allem weit weniger Selbstmordversuche haben. Ist das nicht beeindruckend? Selbst aus dem kritischen Blick der empirischen Wissenschaft bemerkt man heute einen heilvollen Effekt des Gebetes auf den Menschen.
Aber wieso tut Gebet der Psyche so gut? Durch den herausragenden amerikanischen Forscher Robert Cloninger wissen wir, dass der Dreischritt aus Selbstkontrolle, Kooperationsfähigkeit und Selbsttranszendenz das Leben gelingen lässt. Alle drei werden durch Gebet gefördert. Die ersten beiden Begriffe erklären sich selbst, der dritte bedarf der Erläuterung: Das lateinische Wort „transcendere“ heißt „übersteigen“. Selbsttranszendenz heißt demnach, über sich hinauszuwachsen, über den eigenen Schrebergartenzaun blicken, den Blick vom Boden der eigenen Bedürfnisse abwenden und nach oben richten. Der Betende schaut auf den, der über ihm selbst steht. Damit hört er auf, um sich zu kreisen. Gebet ist aufmerksames Schauen auf Jesus, das mit einem Verzicht auf das „Ich“ einhergeht, denn der Blick Jesu reinigt das Herz.
Beten ist Kooperation mit Gott, kein bloßes Besinnen auf sich selbst oder die ureigenen Kräfte, wie es die Esoterik suggeriert. In einem gelungenen Gebet passiert es häufig, dass die eigene Enge überschritten wird, dass innere Blockaden überwunden, Lebenslügen aufgegeben werden und die Maske der Selbsttäuschung abfällt. Das ist ein Hinweis darauf, dass Gebet eine Bewegung auf ein Du ist, und nicht das Braten im eigenen Saft. Denn der Gebetsvorgang ist kein narzisstisches Selbstgespräch sondern Austausch, ein sich Anvertrauen und Hören auf jemanden, der es gut mit einem meint. Die Beter hören auf Gott. Als Psychiater habe ich den Eindruck, dass wahrhaft betende Menschen leichter therapierbar sind, weil sie es gelernt haben, zuzuhören und sich selbst kritisch zu hinterfragen.
Jede Kultur hat Formen des Gebetes entwickelt. Denn Gebet ist ein menschliches Grundbedürfnis. Es tut der Psyche so gut, weil es dem Menschen grundgelegt ist: Jemand der betet, handelt genau nach seiner inneren Verfasstheit, seiner Psyche entsprechend. Für mich ist das ein neuer, ein psychologischer Gottesbeweis.
Der Katechismus – wahrlich kein psychologisches Standardwerk, aber durchaus ein moderner Klassiker des Gebetes, formuliert: „Um aber den Ort zu bezeichnen, aus dem das Gebet hervorgeht, spricht die Schrift zuweilen von der Seele oder dem Geist, am häufigsten aber — mehr als tausendmal — vom Herzen. Das Herz betet. Ist dieses fern von Gott, ist das Gebet sinnentleert.“
Das ist wunderschön formuliert. Hier kann wiederum die psychiatrische Wissenschaft ansetzen: Mit dem Begriff „Herz“ kann sie etwas anfangen. Dieses steht für die Entscheidungsmitte des Menschen, im Gegensatz zum Bauch (den Emotionen) und dem Kopf (der Vernunft).
Die Bauchgefühle sind wichtig, aber sie unterscheiden nur zwischen angenehm und unangenehm. Sie wollen – nach Sigmund Freud – Lust maximieren und Unlust vermeiden, sind weder gut noch böse, je nachdem, was der Mensch aus ihnen macht. Es ist ein Fehler, Beziehungen – auch die Gottesbeziehung – von Launen und emotionalen Bedürfnissen abhängig zu machen. Im Gebetsleben (wie im Eheleben) ist es zwar angenehm, gute Gefühle zu haben, aber das darf nicht das Ziel der Gottesbeziehung sein. Sonst ist das Haus auf Sand gebaut.
Eine kirchliche Gemeinde, die das Angenehme und Behagliche in den Vordergrund stellt und unangenehme Wahrheiten verschweigt, wird keinen Bestand haben. Wo Jesus nicht mehr der allmächtige Richter der Lebenden und der Toten ist, wird ein authentisches Gebet zunehmend schwer, weil Gottes Wesen verwässert wurde.
Der Kopf prüft, ob etwas logisch oder widersprüchlich ist. Für einen Menschen ist es essenziell, seinen Kopf auch in Beziehungen einzusetzen (denn manchmal ist eine Beziehung recht unvernünftig). Aber die Vernunft alleine reicht nicht: weil sie aktiv sein kann, ohne dass sich der Mensch selbst als Person mit Haut und Haar einbringt. Er kann sich hinter schlauen Floskeln und wuchtiger Allgemeinbildung verstecken. Es ist wichtig, dass der Verstand es schafft, seine Grenzen zu erkennen: Glaubenswahrheiten sind zwar nicht unlogisch, wohl aber überlogisch. Den Kopf einzusetzen beim Gebet ist hilfreich: das „betrachtende Gebet“ ist stark vernunftbezogen – aber es übersteigt die Vernunft.
Das Herz macht den Menschen aus. Es unterscheidet zwischen Gut und Böse – und entscheidet sich für eines von beiden. Sogar der bekannte Freudschüler Alfred Adler sagt, dass der Mensch sich zwischen Geltungsstreben und Gemeinschaftsgefühl, zwischen Selbstverwirklichung und Dienst an der Gemeinschaft entscheidet. Das passiert im Herzen. Nur das Herz kann aus Liebe verzichten, kann verzeihen, kann über seinen Schatten springen und den ersten Schritt der Versöhnung tun, nur das Herz kann um Entschuldigung bitten und sich aus Liebe selbstlos hingeben wie Maximilian Kolbe. Das schafft der Bauch nicht: Kein Märtyrer hatte in seiner Sternstunde angenehme Bauchgefühle. Aber im Herzen kann man sich auch verweigern – und im Herzen sündigt man.
Ganz schlüssig ist das Herz damit auch aus psychologischer Sicht der Ort der Selbsttranszendenz – und damit des Gebetes, in dem der Mensch freiwillig seinen Gott anbetet, Ihn bittet, Ihm dankt und Ihn lobt. Das Herz ist der Ort der Ganzhingabe an den Schöpfer, der Liebesvereinigung mit dem Gott, der die Liebe ist. Ist das Herz nicht bei Gott, geht das Gebet ins Leere, auch wenn sich der Mund noch so eifrig bewegt.
Der Autor ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut. Er lehrt an der „Sigmund Freud University“ in Wien.