Gott ungezähmt. Zunächst Erstaunen über den Titel. Ja, haben wir denn Gott gezähmt? Dann kurz überlegt: Selbstverständlich. Wir haben aus Ihm den „lieben Gott“ gemacht – über den es nur ja keine Droh-, sondern nur ein Frohbotschaft zu erzählen gibt. Der alle in den Himmel kommen lässt. Den wir uns dem Zeitgeist entsprechend zurechtgezimmert haben.
Diese Sichtweise kennzeichnet der Autor, Johannes Hartl, Leiter des Gebetshauses Augsburg, wie folgt: Das Ego wurde auf den Thron gesetzt und auch die Kirche von diesem Denken angesteckt.
Hartl spricht von der „Selfie-Kirche“, in der ein „Ausverkauf des Heiligen“ stattfinde. „Es geht dramatisch Wichtiges verloren, wenn das Geschöpf vergisst, dass es Geschöpf ist und nicht Schöpfer. Wenn es das Gespür für die letzte und höchste Majestät verliert.“
Daher gehe es darum, die „Furcht des Herrn“ wiederzuentdecken – ehrfürchtig zu erkennen, mit wem wir es zu tun haben, eine Ahnung zu bekommen, dass ich es „mit etwas zu tun habe, was viel mächtiger ist als ich.“
Diese „Furcht des Herrn“ stiftet Leben, „sie schenkt Freiheit und reißt das Herz los von Ketten, die es umfangen.“
Hartl lädt ein zum Abschied von einem „billigen Gott“: „Wir verkaufen einen Gott ohne Gesetze, ohne Anforderungen, ohne Gericht, ohne Hölle. Einen Gott, dem man ein X für ein U verkaufen kann.“ Über diesen könne man „vielleicht gerührt lächeln. Doch er wird niemanden zutiefst packen.“ Dieser Gott sei schrecklich langweilig, vor ihm kniet man auch nicht nieder. Doch dieser „gezähmte Gott ist überhaupt kein Gott,“ so die Diagnose. Er sei ein „Machwerk von Menschen, ein Götze.“
Darum werde auch in der Kirche so wenig von Gott geredet. Zwar gebe es enorm viel „Kopfwissen“, geradezu eine „Inflation an theologischem Theoretisieren und an ritualistischer Kasuistik.“ Aber das sei keine Nahrung für das hungrige Herz. Was das Herz nämlich wirklich suche, sei die „Herrlichkeit Gottes“. Die Größe Gottes sei wieder zu entdecken, Seine Schönheit, Seine anbetungswürdige Ehre, Seine Herrlichkeit.
So lädt der Autor ein, Gott als den zu sehen, „der seine Geschichte erzählt. Der die Gestalt der Schöpfung vor das Auge des Menschen stellt. Der die Gestalt der Geschichte seines Gottesvolkes vor ihn hinstellt. Der die Gestalt schließlich seines eigenen Sohnes vor ihn hinstellt und dann sagt: ,Schau!’ Welche Einladung könnte schöner sein, als die (…) dann zu sagen: Du bist wirklich erhaben.“
In längeren Passagen des Buches setzt sich Hartl dann mit der seit der Aufklärung geübten Kritik an dieser Gottesvorstellung auseinander, um ihr die Sichtweise unseres Glaubens gegenüberzustellen: Gott ist heilig. „Der Raum des Heiligen ist nicht mehr das Terrain des Menschen, das er frei betreten darf.“ Gott sei eben „der ganz Andere. Und das zu vergessen, wäre eine gefährliche Grenzüberschreitung.“
Unsere von der Grenzenlosigkeit wissenschaftlicher Möglichkeiten überzeugte Zeit müsse zur Kenntnis nehmen, dass es etwas gebe, „vor dem alle unsere Sinne und alle unsere Theorien hoffnungslos versagen.“ Würden wir nämlich Gott ganz verstehen können, so wäre er nicht mehr Gott. Gott ist „nicht Teil der Schöpfung, sondern deren Urheber“ und somit keinen Gesetzen unterworfen. Er existiert jenseits der Zeit. Er ist der Ewige.
Das habe Konsequenzen für den Gläubigen, der Gott tatsächlich so sieht: Er „wird sich wenig um die Moden kümmern. Ob eine bestimmte Wahrheit ,zeitgemäß’, ,progressiv’ und ,fortschrittlich’ oder eher ,altmodisch’, ,reaktionär’ und konservativ’ genannt wird, wird sich aus der Perspektive der Ewigkeit heraus als verhältnismäßig uninteressant darstellen.“
Wichtig für unsere Zeit erscheint mir besonders das Kapitel: „Gott ist kein Kumpel, sondern der Richter“. Darin setzt sich Hartl mit der weit verbreiteten theologischen Irrlehre der Allversöhnung auseinander, die behauptet, es kämen ohnedies alle in den Himmel. Er ruft in Erinnerung: „Weil Gott heilig und weil Gott die Wahrheit ist, klafft ein unüberwindlicher Graben zwischen den gefallenen Menschen und ihm. Die Lehre von Gottes Gericht ist nicht, dass es gute und weniger gute Menschen gibt und jene mit den meisten guten Taten schließlich in den Himmel kommen. Die Lehre vom Gericht Gottes besagt, dass diese Welt unter dem Gericht Gottes steht.“
Das bedeute nicht, dass Gott von außen her strafe. Es offenbare vielmehr „mit schrecklicher Konsequenz die realen Auswirkungen der Entscheidungen, die der Mensch getroffen hat.“ Die Sünde trenne eben von Gott. Davor müsse man die Menschen, in deren eigenem Interesse warnen. Und das geschehe nicht nur im Alten, sondern an vielen Stellen auch im Neuen Testament. Man verstehe das Evangelium nur, wenn man die Verlorenheit des Menschen zur Kenntnis nehme. Dann werde nämlich klar, dass es eines Mittlers zwischen Gott und Mensch bedurfte, fähig, „Stellvertreter aller sündigen Menschen zu werden. (…) Der den Platz auf der Anklagebank annahm und den Gerichtsspruch empfing, der uns gegolten hatte. Die Verurteilung zum Tod.“ Und nochmals zur Klarstellung: „Ja, Gott ist ein Richter. Doch er ist zugleich der, der sich auf die Seite des Angeklagten stellt…“
Ich habe dieses Buch mit großem Gewinn gelesen. Es hat mir wieder neu den Blick für die Größe, die Schönheit, die Anbetungswürdigkeit Gottes geöffnet, Aspekte, die der oft aufgaben- und sorgenerfüllte Alltag leicht in den Hintergrund treten lässt. Ausgehend von attraktiv geschilderten persönlichen Erfahrungen lädt Hartl seine Leser in leicht verständlicher Sprache zu einer Erneuerung ihres Glaubens ein. Dementsprechend auch der Untertitel des Buches: „Raus aus der spirituellen Komfortzone“.
Gott ungezähmt – Raus aus der spirituellen Komfortzone. Von Johannes Hartl. Herder-Verlag. 218 Seiten, 19,99 Euro (auch als e-Book erhältlich). Siehe auch eine Passage aus dem Buch auf S. 7 über das Gebet.