Das Christentum erlebt in den Ländern deutscher Sprache einen Niedergang von historischem Ausmaß. Innerhalb von 25 Jahren ist in Deutschland die Zahl der Kirchenbesucher auf die Hälfte zurückgegangen. Nach Umfragen renommierter Forschungsinstitute tragen sich mindestens 20 Prozent der „Gläubigen“ in Deutschland mit dem Gedanken an einen Kirchenaustritt, andere sprechen gar von bis zu 50 Prozent.
Der Journalist Peter Seewald, dessen Gesprächsbücher mit Joseph Ratzinger/Papst Benedikt Salz der Erde, Gott und die Welt sowie Licht der Welt allesamt Weltbestseller waren, stellt in diesem neuen Interviewband mit dem Passauer Bischof Stefan Oster die Frage, ab wann denn der Glaube in Deutschland begann, sich in Luft aufzulösen. Seewald fragt, ob da nicht eine Kirche der Langeweile entstanden war, die aus dem Evangelium Christi eine spießige Veranstaltung gemacht hat, die niemanden mehr anspricht.
Der Autor hat für sein Gespräch mit Bischof Oster eine Reihe interessanter Zahlen und Fakten über Glaubenswissen, Glaubensbewusstsein und Glaubensbindung in Deutschland zusammengetragen, die den unbedarften Leser sicherlich schockieren werden: 60 Prozent der Deutschen glauben nicht mehr an ein ewiges Leben, seit 1990 haben sich die Taufen in der katholischen Kirche halbiert, junge Menschen werden nach Erstkommunion und Firmung meist nicht mehr in der Kirche gesehen. Während zehn Prozent der deutschen Katholiken noch den Sonntagsgottesdienst besuchen, sind es bei den Protestanten nur mehr drei Prozent. Eine aktuelle Seelsorgestudie hat ergeben, dass in Deutschland über 50 Prozent der Priester einmal im Jahr oder seltener beichten, bei den Gemeindereferenten liegt diese Zahl bei 90 Prozent.
Der Autor stellt in seinem Gespräch mit dem jungen Passauer Hirten die Frage nach der echten Reform in der Kirche, geht den Ursachen von Selbstblockade und Selbstsäkularisation nach und spricht das Thema der unterlassenen Katechese an, die zu einem Heer von christlichen Analphabeten geführt hat. Messerscharf und ungeschönt analysiert der Biograph Papst Benedikt XVI. die dramatische Situation, in der sich die deutsche Kirchenbürokratie befindet.
Seewald bringt auch das heikle Thema Geld aufs Tablett: Während die Mitgliedszahlen sinken, wächst das Vermögen. Mit rund 5,68 Milliarden Euro übersprangen 2014 die Einnahmen an Kirchensteuern zum dritten Mal in Folge die Fünf-Milliarden-Grenze, ein Plus von 4,2 Prozent. Da stellt sich von selbst die Frage, wie das zum Modell einer „Kirche der Armen“, wie Papst Franziskus sie sich wünscht, passt.
Bei dieser ernüchternden Bestandsaufnahme Seewalds kann einem der junge, sympathische Passauer Bischof Oster zuweilen ein wenig leidtun. Der Bischof bemüht sich redlich, die richtigen Antworten auf die Symptome der Krise zu geben und benennt in großer Offenheit die Ursachen der Entwicklung.
Stefan Oster ist ein Bischof, der täglich nach Umkehr und Erneuerung ringt. Er fordert eine Erneuerung der Kirche in der Tradition jener Reformer, die einen Aufbruch aus dem Glauben heraus in Bewegung brachten – unbequem, provozierend und hartnäckig.
Im ersten Teil des Buches erzählt Oster, der in seinen Jugendjahren ein aufstrebender Radioreporter war, seine eigene Lebens- und Berufungsgeschichte. Er war erfolgreich, hatte eine große Fangemeinde, eine Freundin, die ihn liebte – und trotzdem suchte er nach einem tieferen Sinn im Leben.
1995 trat er in den Orden der Salesianer Don Boscos ein und wurde 2011 zum Priester geweiht. In ganz kurzer Zeit legte der promovierte Philosophieprofessor eine kirchliche Karriere hin, die ihn 2014 auf den Stuhl des Bischofs von Passau führte.
Stefan Oster gibt in diesem Buch ein sehr persönliches und beeindruckendes Glaubenszeugnis. Der sympathische Bischof von Passau gilt geradezu als Prototyp eines Hirten für die Kirche von Heute und Morgen. Es ist zu wünschen, dass Bischof Stefan Oster und Peter Seewald mit diesem Buch eine längst zu führende Debatte über den Glauben und die Erneuerung in der katholischen Kirche Deutschlands anstoßen.
Christoph Hurnaus
Gott ohne Volk, Bischof Stefan Oster, Peter Seewald, Verlag Droemer & Knaur, 240 Seiten, 15,50 Euro