VISION 20003/2016
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Amoris laetitia – heftig umstritten

Artikel drucken Gedanken zur nachsynodalen Schreiben über Ehe und Familie von Papst Franziskus (Christof Gaspari)

 „Die letzte Schlacht zwischen dem Herrn und der Herrschaft Satans wird um die Ehe und die Familie geschlagen“: Feststellung von Sr. Lucia, der 2005 verstorbenen Seherin von Fatima. Es spricht einiges dafür, dass wir derzeit mitten in diesem Kampf stehen. Welche Herausforderung für die Kirche! Wie ist auf diesem Hintergrund das Nachsynodale Schreiben Amoris laetitia von Papst Franziskus einzuschätzen?

Alle großen Medien haben sich auf das Dokument gestürzt. Obwohl es sehr umfangreich ist, bekam man im Handumdrehen grundlegende Schlussfolgerungen vorgesetzt. Wie erwartet, konzentrierten sich die Medien auf die üblichen „heißen Eisen“: die zivil wiederverheirateten Geschiedenen, die Homo-„Ehe“, die Empfängnisverhütung… Bei den meisten Themen wurden sie nicht fündig: keine Spur der heißersehnten Liberalisierung – außer in der Frage der Wiederverheirateten. Da schien sich ein Durchbruch abzuzeichnen.  Bald meldeten sich auch kirchliche Stimmen zu Wort. So diagnostizierte etwa Gerda Schaffelhofer, Präsidentin der Katholischen Aktion Österreichs „eine Schubumkehr in der Kirche“, das „Ende einer kalten Schreibtischmoral“.
Kommentare wie „Die Franziskanische Wende“ (Die Furche) erhoffen sich sogar, „dass in die Causen Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene bis zur Methodenwahl bei der Empfängnisverhütung, in weiterer Folge auch in die Bewertung gleichgeschlechtlicher Beziehungen jene Entspanntheit einkehrt, die Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten eröffnet.“
Und Kardinal Walter Kasper, von Papst Franziskus zur Schlüsselfigur im Vorfeld der synodalen Debatten auserkoren, erklärte in der Aachener Zeitung, „die Tür“ – für die Zulassung der Wiederverheirateten zu den Sakramenten – „ist jetzt weit offen“.
Auf diversen Internet-Seiten und Blogs entbrannten daher heiße Diskussionen, ob es zu einem Bruch in der Lehre der Kirche zu Ehe und Familie gekommen sei. Regensburgs Bischof Rudolf Voderholzer verneinte die Frage rundweg: „Papst Franziskus ändert an der bisherigen Lehre nichts. Er schreibt „Familiaris consortio“ angesichts einer noch komplexer gewordenen Situation fort.“ Ähnlich die Aussagen von Kardinal Christoph Schönborn, der das päpstliche Schreiben der internationalen Presse in Rom vorgestellt hatte, und von Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Präfekt der Glaubenskongregation.
Gewichtige Stimmen wie die des deutschen Philosophen Robert Spaemann wiederum sahen es anders. Er stellte in einem Interview fest, der Papst habe das „Chaos … mit einem Federstrich zum Prinzip erhoben“. Er „hätte wissen müssen, dass er mit einem solchen Schritt die Kirche spaltet und in Richtung eines Schismas führt…“
Äußerst verwirrend, nicht wahr? Um klarer zu sehen, habe ich mir daher in den Wochen seit dem 19. März, dem Tag der Veröffentlichung des Dokuments, viel Zeit genommen, um mich ausführlich mit dem Dokument und den verschiedensten Kommentaren auseinanderzusetzen.
Bevor ich festhalte, was dabei herausgekommen ist, muss ich etwas Wichtiges vorausschicken: Seit der Gründung versteht sich VISION2000 als Medium, das sich zum Lehramt der Kirche, also zum jeweiligen Papst bekennt. Wir sind überzeugt, dass der Herr auch Papst Franziskus besondere Gnaden schenkt, die Kirche durch unsere schwierigen Zeiten zu leiten.
Mit dieser Grundeinstellung – allerdings sehr verunsichert durch das, was ich rundherum an Kommentaren mitbekommen hatte – bin ich also an die Lektüre von AL herangegangen, wohlgemerkt als gläubiger Laie, nicht als geschulter Theologe.
Und das Ergebnis? Zunächst eine äußerst positive Überraschung. Eigentlich hatte ich mir immer gewünscht, die Kirche sollte wieder einmal ein Dokument herausbringen, das Ehe und Familie attraktiv und in leicht verständlicher Sprache darstellt.
Und genau das ist Amoris Laetita (AL) über weite Strecken. Es zahlt sich wirklich aus die Kapitel 4,5,6,7,9 ausführlich zu lesen und auf sich wirken zu lassen. Besonders ansprechend ist die Betrachtung, die Papst Franziskus im 4. Kapitel über die eheliche Liebe auf der Basis des Hohelieds der Liebe (13. Kapitel d. 1. Korintherbriefs) anstellt. Dieser Text sollte künftig Thema in jeder Ehevorbereitung sein: nicht kitschig, die Ehe in rosa Licht verklärend, sondern realitätsbezogen, herausfordernd – und dennoch attraktiv, weil einfach wahr. Ja, so würden sich die meisten erhoffen, dass der Ehepartner mit ihm umgeht – darum sollte auch ich selbst mich bemühen: keine Eifersucht, kein Neid, bereit, mich einzusetzen, auch wenn es schwerfällt, fröhlich, vertrauensvoll, großzügig, bereit zu verzeihen – und vor allem für ein ganzes Leben!
Lassen wir den Papst selbst zu Wort kommen: „ Nach der Liebe, die uns mit Gott vereint, ist die eheliche Liebe die ,größte Freundschaft’. Es ist eine Vereinigung, die alle Merkmale einer guten Freundschaft hat: Streben nach dem Wohl des anderen, Gegenseitigkeit, Vertrautheit, Zärtlichkeit, Festigkeit und eine Ähnlichkeit zwischen den Freunden, die sich im Laufe des miteinander geteilten Lebens aufbaut. Doch die Ehe fügt alldem eine unauflösliche Ausschließlichkeit hinzu, die sich in der festen Absicht ausdrückt, das gesamte Leben miteinander zu teilen und aufzubauen. Seien wir ehrlich und erkennen wir die Zeichen der Wirklichkeit: Wer (…) die Freude, zu heiraten, intensiv erlebt, denkt nicht an etwas Vorübergehendes; diejenigen, die der feierlichen Besiegelung einer von Liebe erfüllten Vereinigung beiwohnen, hoffen – auch wenn diese Liebe zerbrechlich ist –, dass sie die Zeit überdauern möge; die Kinder möchten nicht nur, dass ihre Eltern einander lieben, sondern auch, dass sie treu sind und immer zusammenbleiben. Diese und andere Zeichen zeigen, dass im Wesen der ehelichen Liebe selbst die Öffnung auf die Endgültigkeit hin vorhanden ist.“ (123)
Oder an anderer Stelle: „Die Verlängerung des Lebens lässt ein Phänomen entstehen, das in vergangenen Zeiten eher ungewöhnlich war: Die vertraute Beziehung und die gegenseitige Zugehörigkeit müssen über vier, fünf oder sechs Jahrzehnte hin bewahrt werden, und da wird es zu einer Notwendigkeit, einander immer wieder neu zu erwählen. (…)Wir können einander nicht versprechen, das ganze Leben hindurch die gleichen Gefühle zu haben. Stattdessen können wir aber sehr wohl ein festes gemeinsames Vorhaben teilen, uns verpflichten, einander zu lieben und vereint zu leben, bis der Tod uns scheidet, und immer in reicher Vertrautheit leben. Die Liebe, die wir versprechen, geht über alle Emotionen, Gefühle oder Gemütsverfassungen hinaus, auch wenn sie diese einschließen kann. Sie ist ein tieferes Wollen, mit einer Entscheidung des Herzens, die das ganze Leben einbezieht. (…) Jeder der beiden geht einen Weg des Wachstums und der persönlichen Veränderung. Auf diesem Weg feiert die Liebe jeden Schritt und jede neue Etappe.“ (163)
Ein eigenes Kapitel ist der Kindererziehung gewidmet, übrigens auch der Sexualerziehung. Da wird deutlich, wie stark sich der christliche Zugang von der heute weitverbreiteten Aufklärungspraxis unterscheidet: „Sexualerziehung (…) könnte nur im Rahmen einer Erziehung zur Liebe, zum gegenseitigen Sich-Schenken verstanden werden. Auf diese Weise sieht sich die Sprache der Geschlechtlichkeit nicht einer traurigen Verarmung ausgesetzt, sondern wird bereichert. Der Sexualtrieb kann geschult werden in einem Weg der Selbsterkenntnis und der Entwicklung einer Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, die helfen können, wertvolle Fähigkeiten zur Freude und zur liebevollen Begegnung zu Tage zu fördern. (…) Eine Sexualerziehung, die ein gewisses Schamgefühl hütet, ist ein unermesslicher Wert, auch wenn heute manche meinen, das sei eine Frage anderer Zeiten. Es ist eine natürliche Verteidigung des Menschen, der seine Innerlichkeit schützt und vermeidet, zu einem bloßen Objekt zu werden.“ (280,282)
Wie sehr all das, was der Papst über Ehe und Familie sagt, in letztlich nur von Gott her verstanden werden kann, wird im 9. Kapitel deutlich. Auch dazu lassen wir ihn zu Wort kommen: „Heute können wir auch sagen, dass die Dreifaltigkeit im Tempel der ehelichen Gemeinschaft gegenwärtig ist. (…) (Sie) lebt zuinnerst in der ehelichen Liebe, die sie verherrlicht.“ Oder: „Letztlich ist die eheliche Spiritualität eine Spiritualität der innigen Verbindung, in der die göttliche Liebe wohnt.“
In einem Kommentar zu AL hält Carl E. Olson, Redakteur von Catholic World Report fest, 95% des Schreibens seien wertvoll, gäben keinerlei Anlass zu Kritik. Da werde die Gender-Ideologie verurteilt, die Ehe als Verbindung nur von Mann-Frau dargestellt, ihre Unauflöslichkeit betont, die Lehre von Humanae vitae bestätigt, die Familie als Abbild der Dreifaltigkeit Gottes hervorgehoben, die Bedeutung der Ehevorbereitung, die Notwendigkeit, Ehen zu begleiten, betont…
Also doch alles bestens? Leider nein. Denn da ist vor allem das 8. Kapitel, auf das sich alle gestürzt haben und in dem es um den Umgang mit den zivil wiederverheirateten Geschiedenen und Menschen in anderen „irregulären Situationen“ geht. Mit dieser Bezeichnung wird vermieden, von Ehebruch zu sprechen, der in der Heiligen Schrift, auch durch die Worte Jesu selbst, als schwere Verfehlung qualifiziert wird. Aber: Würde nicht gerade unsere Zeit, in der alle sexuelle Tabus niedergerissen sind, dringend eine klare Wegweisung auf diesem Gebiet brauchen? Genug leidvolle Erfahrungen gibt es ja längst, die deutlich machen, dass die Lehre der Kirche kein überholter Moralismus ist.
Papst Franziskus ist jedoch offensichtlich bemüht, alles zu vermeiden, was irgendwie nach Verurteilung aussehen könnte. Dabei kommt es allerdings zu Aussagen, die durchaus Verwirrung stiften, etwa: „Daher ist es nicht mehr möglich zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten ,irregulären’ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben.“ Natürlich stimmt dieser Satz in seiner allgemeinen (alle) und vagen (irregulär) Formulierung. Aber lädt er nicht geradezu zum Missbrauch ein? Ist es ein Wunder, wenn Kritiker dem Papst Aussagen vorwerfen, die einen Bruch mit der bisherigen Lehre darstellen?
Hier geraten sich die Theologen sicher in die Haare – wie bisher übrigens. Die Gräben werden sich wohl weiter vertiefen. Diese Entwicklung scheint der Papst in Kauf zu nehmen. Jedenfalls hat er darauf verzichtet, ausdrücklich zu wiederholen, was in Familiaris Consortio von Papst Johannes Paul II. klargestellt worden ist. Bei der Länge des Dokuments hätte die Klarstellung aus Familiaris Consortio Nr. 84 sicher Platz finden können, die klarstellt: die Zulassung zu den Sakramenten könne bei Wiederverheiratung nur jenen gewährt werden, die „sich verpflichten, völlig enthaltsam zu leben, das heißt, sich der Akte zu enthalten, welche Eheleuten vorbehalten sind“.  
Ich muss zugeben, dass mir also manches Sorgen macht. Allerdings will ich mich nicht in Debatten über den Wert von Fußnoten, vollständigen oder unvollständigen Zitaten einlassen. Zu denken gibt aber der Applaus, der aus dem Lager jener kommt, die sehnsuchtsvoll eine Änderung der kirchlichen Morallehre erwartet haben, die seit Jahrzehnten, die Pastoral von der Lehre lösen und zweite Verbindungen segnen. Sollte ein Dokument, das Ergebnis einer zweijährigen weltweiten Debatte ist, nicht so klar formuliert werden, dass es keiner langatmigen Interpretationen lehramtstreuer Bischöfe und Theologen bedarf, um hervorzuheben, es stelle keinen Bruch in der Lehre der Kirche dar?
Eine Anfrage aber hätte ich an all jene, die meinen, nun seien Zeiten angebrochen, in denen Menschen, die in „irregulären Verhältnissen“ leben, jetzt unter besonderen Bedingungen grünes Licht für den Empfang der Eucharistie bekommen: Wohin soll der Weg der intensiven „Unterscheidung“ und „pastoralen Barmherzigkeit“, die der Papst fordert, in letzter Konsequenz die Betroffenen nun führen? Doch wohl nur dazu, dass sie letztendlich ein Leben führen, das der klaren Wegweisung Jesu entspricht.  
Diese finden wir im Neuen Testament: „Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Mt 6,27) Oder: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“ (Mk 10,9) Und schließlich: „Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch. Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet.“ (Mk 10,11f) Klare Worte, die man den Menschen – und zwar uns allen – auch heute, in dieser von sexuellen Anreizen so beherrschten Zeit, nicht vorenthalten sollte.
Sind wir also durch AL im „letzten Kampf“ um Ehe und Familie gestärkt? Ja und nein. Nein, weil die Grabenkämpfe um die Deutung dieser Fragen fortdauern werden, sich die Praxis je nach Pfarre, je nach Diözese in diesen wichtigen Fragen unterschieden wird – vor allem in Europa. Und das wird die missionarische Kraft der Kirche weiter lähmen.
Ja, weil es Papst Franziskus gelungen ist, ein attraktives, lebensnahes Bild von der Schönheit der christlichen Familie zu malen. Das gilt es, unter die Leute zu bringen – und vorzuleben.


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