Wir leben in einer vaterlosen Gesellschaft, so Alexander Mitscherlich vor mehr als einem halben Jahrhundert. Mit Ausnahmen hat sich die Situation seither nicht verbessert – im Gegenteil. Ein Appell, die Notwendigkeit und Schönheit der Väterlichkeit zu entdecken.
Wer sich umschaut, erkennt: Vaterlosigkeit auf breiter Front. Allein in Österreich verlieren jährlich rund 20.000 Kinder ihren Vater durch Scheidung, werden sie doch fast immer den Müttern zugesprochen, wodurch ihr Kontakt zum Vater zumindest schwierig und oft über kurz oder lang ganz abgebrochen wird.
Da die Stabilität der Beziehungen unverheirateter Paare (40% der Geburten sind unehelich) noch geringer ist als die von Ehen, verliert auch eine große Zahl unehelicher Kinder relativ bald den Kontakt zum Vater – besonders, wenn dieser eine neue Beziehung eingeht. Denn der Charme von Patchwork-Familien hält sich erfahrungsgemäß in Grenzen.
Dazu kommt ein weiteres Phänomen: die Vaterlosigkeit bei aufrechter Ehe. Das hat viel mit der Entwicklung der Berufswelt zu tun, die immer größere Anforderungen stellt, auch an die Frauen übrigens. Während diese immer noch – auch bei Doppelbelastung – die Kinderbetreuung als ihre wichtige Aufgabe ansehen, verstehen Männer nur allzu leicht ihre Freizeit als Raum der Regeneration. Dann werden Hobbys gepflegt, wird in Vereinen gewirkt oder Sport betrieben. Oft herrscht auch noch das Missverständnis vor, Erziehung sei, insbesondere bei Kleinkindern, reine Frauensache.
Diese Vaterlosigkeit hat durchaus Folgen für die Nachkommenschaft, wie zahlreiche Untersuchungen belegen. Mir ist das erstmals aufgefallen, als meine Frau und ich in einem Heim für Strafentlassene mitgewirkt haben. Da zeigte sich, dass rund 70% unserer Klienten ohne Vater aufgewachsen waren. Sie hatten nicht gelernt, mit Grenzen umzugehen.
Denn das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Väter: Grenzen zu setzen und deren Einhaltung einzufordern. Mit Grenzen umgehen zu lernen, ist eine der notwendigsten Fähigkeiten im Zusammenleben. Respekt vor dem Mitmenschen setzt die Fähigkeit voraus, das eigene Wollen relativieren zu können, die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu machen. Das müssen Kinder früh lernen. Es ist vor allem Aufgabe der Väter, dies zu vermitteln. Frauen tun sich da wegen ihres stärkeren gefühlsmäßigen Engagements viel schwerer.
Väter sind also gefordert, Autorität auszuüben. Leider ist Autorität ein Merkmal, das heute keine gute Presse hat. Männer, die sich um Autoritätsausübung bemühen, werden leicht als Macho, Pascha oder autoritärer Patriarch karikiert. Zugegeben, diese Fehlhaltung, die eigenen Vorstellungen, koste es, was es wolle, durchzusetzen, gibt es.
Daher ist es wichtig, Gedanken über Autorität anzustellen. Wohlverstandene Autorität setzt die eigene Einsicht und Stärke im Dienst an den Personen ein, die einem anvertraut sind. Bereitschaft, den Anweisungen eines anderen zu folgen, wächst nämlich vor allem dort, wo sie auf der Erfahrung beruht, dass die Anordnung aus einer Haltung des Wohlwollens erfolgt. Väterliche Autorität erwächst daher aus der Erfahrung des Kindes, dass der Vater es gut mit ihm meint.
Daher wäre es so wichtig, dass sich Väter schon um ihre kleinen Kinder bemühen – was übrigens besonders in jungen, glaubensbewegten Familien ja auch tatsächlich geschieht. Jean Le Camus, ein Psychologe aus Toulouse, der das Verhalten in der frühen Kindheit erforscht hat, beobachtete, dass väterliches Engagement schon den neun Monate alten Babys ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.
„Unsere Arbeiten kamen zu dem Ergebnis, dass 3-jährige Kinder von engagierten Vätern sich besser in eine Gruppe integrieren können. (…) Bei der Beobachtung von 3- bis 5-Jährigen haben wir entdeckt, dass sie imstande waren, Konflikte eher diplomatisch als durch Aggressivität zu lösen, eher durch Worte als durch Schläge. Körperbetonte Spiele mit dem Vater (Kämpfe, Wettläufe…) machen dem Kind begreiflich, dass es sich an Regeln halten muss und den anderen als Partner, der zu respektieren ist, anzusehen hat.“
Herstellen von Ordnungen und Sorge um deren Einhaltung ist also eine der so notwendigen Aufgaben der Väter. Und, wie gesagt, das Erlernen des Umgangs mit Grenzen. Einerseits lehrt der Vater also, Grenzen anzuerkennen. Andererseits ist es aber auch seine Aufgabe, seine Kinder zu ermutigen, über nur scheinbare Begrenzungen hinauszugehen, daran zu wachsen, Neues zu erkunden, zu lernen, auch Risiken in Kauf zu nehmen, wenn dies Sinn macht.
Auch dazu liefert Le Camus ein Beispiel. Er beobachtete, dass Männer und Frauen anders mit den Kindern spielten: „Bei einem Spiel, bei dem etwas zu bauen war, kamen die Mütter ihren Kindern viel häufiger zu Hilfe, während die Väter dazu neigten, die Kinder zu ermutigen, selbst die Schwierigkeit zu überwinden. Was die Babys betrifft, so erbrachten sie in der Gegenwart des Vaters meist bessere Leistungen. Das deutet darauf hin, dass Väter mehr zur Autonomie animieren als Mütter.“
Das sind nur einige wenige Beispiele, die auf die Bedeutung des Vaters schon in der frühesten Kindheit hinweisen. Weit bekannter sind Untersuchungen, die die besondere Bedeutung des Vaters in der Pubertät und der Jugendzeit belegen. Dann gilt es Konflikte durchzustehen, erst recht Grenzen zu setzen, Wege in die Gesellschaft zu weisen… An der Art, wie der Vater diese Aufgabe wahrnimmt, entscheidet sich die Vorstellung, die der Sohn – und auch die Tochter – von der Männlichkeit entwickeln wird. Hier hat sich die Väterlichkeit zu bewähren, jene Haltung, die von Stärke, Umsicht, Zuversicht und Wohlwollen geprägt sein sollte, die Mut zum Leben vermittelt, Mut zur Ablösung von den Eltern im Vertrauen darauf, dass diese im Notfall parat stehen, um bei Misserfolg und Scheitern aufzufangen und einen neuen Anlauf zu ermöglichen.
Klar, keiner wird als perfekter Vater geboren. Der Bub, der Jugendliche lernt es zunächst am Vorbild des eigenen Vaters. Es wird ihn ein Leben lang prägen. Daher auch die große Bedeutung der Väter, daher auch die schwerwiegenden Folgen ihres Ausfalls oder Versagens. Der junge Mann lernt aber Wesentliches auch im Umgang mit den eigenen Kindern dazu. Ihre vollkommen hilflose Abhängigkeit im Baby-Alter weckt im Vater das Gefühl der Verantwortung für diesen kleinen, ihm anvertrauten Menschen. Eine Erfahrung, die eine neue Dimension des Altruismus zum Schwingen bringen kann: Du trägst Verantwortung dafür, dass das Leben dieses kleinen Menschen, den es in Ewigkeit geben wird, gelingt. Welche Herausforderung!
Gleichzeitig machen es einem die Kinder aber auch leicht, sich dieser Herausforderung zu stellen: Wie lebensbejahend sind sie, wie kontaktfreudig (wie wunderbar das Lächeln des Babys, wenn sich der Vater über das Kind beugt!), wie fröhlich, wie bereit, spontan positive Gefühle zu äußern (Bussi, mit ausgestreckten Armen entgegenlaufen…}! Und vor allem: Wie unfassbar groß ist das Vertrauen der Kinder in ihre Eltern!
All das sind Erfahrungen, die dem Vater helfen, positive Gefühle zu entwickeln und zu zeigen, sich anderen herzlich und uneigennützig zuzuwenden, kurzum als Mensch zu reifen.
Insofern sind Kinderlosigkeit und Versagen der Väter Grundprobleme unserer Zeit. Sie verhindern, dass die Männer reifen, dass sie lernen, ihre Stärken nicht für die eigene Selbstverwirklichung zu genießen und einzusetzen, sondern in den Dienst der Entfaltung anderer zu stellen.
Dieses Manko an Väterlichkeit hat natürlich auch Folgen für das Gottesverständnis in unseren Tagen. Wenn uns Gott als der barmherzige Vater, der sich voll Güte den Menschen zuwendet, in der Heiligen Schrift vor Augen gestellt wird, so gibt es heute mehr und mehr Menschen, die mit diesem Bild aber schon gar nichts anfangen können: entweder, weil sie selbst nie einen Vater erlebt haben, oder, weil ihre Erfahrungen mit dem Vater so negativ waren, dass die Vorstellung, auch Gott könnte so wie ihr Vater sein, geradezu Widerwillen erweckt.
So gesehen wird deutlich, vor welcher Herausforderung wir stehen: Eine Gesellschaft, die Vater und Mutter abschafft und an deren Stelle Elter 1 und Elter 2 setzt, die den Menschen einzureden versucht, sie könnten nach Belieben ihr Geschlecht wählen und in beliebigen Konstellationen Familie spielen, versperrt systematisch den Weg des Glaubens an Gott. Denn dieser hat sich als barmherziger Vater offenbart. Er hat Mann und Frau zu einer fruchtbaren Einheit berufen, damit das Geheimnis Seiner Dreifaltigkeit in der Schöpfung aufleuchte. Dieses Geheimnis sichtbar zu machen, ist die große Herausforderung unserer Tage.
In diesem Zusammenhang muss ich wieder an den Satz von Sr. Lucia dos Santos denken, die eine der Seherinnen von Fatima war und vor Jahrzehnten an Kardinal Carlo Caffara in einem Brief geschrieben hat: „Die letzte Schlacht zwischen dem Herrn und der Herrschaft Satans wird um die Ehe und die Familie geschlagen.“ Wir stehen mitten in diesem Kampf, den wir nur mit Hilfe des Heiligen Geistes bestehen können.