Schwer zu ertragen, die Stille. Besonders in unserer von äußeren Reizen und Lärm durchwirkten Zeit. Plötzlich mit sich allein zu sein, verunsichert. Nur, genau genommen sind wir gar nicht wirklich allein. Jedenfalls erlebt dies der Bauer von Ars so.
4’33’’. So heißt eine Komposition aus dem Jahr 1952, erdacht von dem amerikanischen Avantgardisten John Cage (1912-92). Der Titel 4’33’’ bezieht sich, wie wir richtig vermuten, auf die Dauer der Komposition. Aber Dauer besagt noch nicht viel über den Inhalt. In 4 Minuten und 33 Sekunden kann ein gregorianischer Choral, eine kunstvolle Fuge, ein beschwingter Walzer oder ein wildes Schlagzeugsolo erklingen. Um welche Art von Musik handelt es sich bei John Cage? Besser gefragt: Was geschieht in diesen 4 Minuten und 33 Sekunden?
Die Antwort ist einfach: Es geschieht nichts. Der Solist betritt die Bühne, verneigt sich vor dem Publikum, setzt sich an den Flügel, nimmt seine Uhr zur Hand, stoppt die angegebene Zeit ab, dann erhebt er sich und verneigt sich abermals vor den Anwesenden. Der Vortrag ist beendet.
Das Publikum ist also Zeuge eines fast fünfminütigen Schweigens geworden. Möglicherweise kam ihm diese Zeit der Stille wie eine Ewigkeit vor. Keine melodischen und harmonischen Raffinessen bezauberten das Ohr, keine virtuosen Glanzleistungen ließen den Atem stocken. Deshalb mögen einige Zuhörer sich verlegen geräuspert, andere amüsiert gekichert, wieder andere unangenehm berührt im Programmheft geblättert oder gelangweilt im Saal herumgeschaut haben.
Es fällt den meisten Menschen eben nicht leicht, mit so viel Schweigen fertig zu werden. Schon die Gedenkminuten, zu denen öffentliche Institutionen gelegentlich aufrufen, scheinen uns lang zu sein (zumal dann, wenn die Erinnerungen an die verstorbene Person oder das bedachte Ereignis nicht allzu lebhaft sind). Viereinhalb Minuten aber, und diese ohne jeden konkreten Inhalt: eine Zumutung an die Geduld. Denn wir leiden unter dem Nichts, dem Nichtstun und Nichts-Geboten-Bekommen.
Schnell stellt sich der berühmte „horror vacui“, der Schrecken vor der Leere, ein. Es entsteht die sprichwörtliche „gähnende Leere“, die wie ein Gähnender nur rasch etwas in sich hineinsaugen will, um sich damit zu füllen.
Erfinderisch, wie der Mensch ist, hat er vieles erdacht, womit er die Stille, diesen ärgerlichen Feind, vertreiben kann. Musik, zumeist anspruchslose und oberflächliche, ist fast allgegenwärtig. Zuhause, am Arbeitsplatz, im Auto und in Geschäften rieselt, plätschert oder donnert sie. Und auch auf dem Spaziergang durch den Wald, beim Sonnenbad am Strand werden Kopfhörer aufgesetzt. Fehlen aber die Klänge, die so wohltuend über die innere Leere hinwegtäuschen, dann beobachten wir, wie sich immerhin noch die Finger und Füße zu einem innerlich weitertönenden Musikstück bewegen. Eine Notlösung zwar, aber doch weitaus besser als die gefürchtete Stille.
Szenenwechsel:
Der heilige Pfarrer von Ars geht durch seine Kirche. In einer Bank nimmt er, wie so oft schon, einen einfachen Bauern wahr, der sich stundenlang dort aufhält, ohne Buch oder Rosenkranz in den Händen, aber den Blick unablässig nach vorne, zum Altar gewandt. Der Pfarrer fragt ihn: „Was tust Du denn hier die ganze Zeit über?“ Die Antwort: „Ich schaue Ihn an, und Er schaut mich an. Das ist genug.“
Ein erstaunliches Wort. Selbst bei einer abwechslungsreichen Tätigkeit können wir Sterblichen kaum mehrere Stunden ausharren, ohne zu ermüden, und auch der spannendsten Lektüre, der interessantesten Darbietung werden wir einmal überdrüssig. Doch über lange Zeit hin einfach nur zum Altar zu schauen und daran Genüge zu finden, und dies nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder, während vieler Wochen, Monate, Jahre – das ist mehr als ungewöhnlich.
Unser Erstaunen wird noch dadurch verstärkt, dass der stille Mann eigentlich niemanden sehen kann, den er anschaut und von dem er angeschaut wird. Seine schlichte Antwort zeugt nicht von visionären Erlebnissen. Kein geöffneter Himmel, keine von Engelscharen umschwebte, von Posaunenschall umbebte Christuserscheinung ragt in sein Blickfeld. Nur der Altar, das Altarkreuz, der Tabernakel.
Es besteht kein Grund zu der Vermutung, der Bauer habe vielleicht unbewusst einer Art fernöstlicher Versenkungsmystik gehuldigt und sei beim ungegenständlichen Meditieren in einen Zustand ekstatischer Ruhe gefallen. Dagegen spricht die knappe Auskunft: „Ich schaue Ihn an, Er schaut mich an.“
Er hat also einen Jemand vor sich. Eine konkrete Person. Und wenn auch nicht mit den leiblichen Augen, so schaut der Beter doch mit den „Augen des Herzens“ , den Augen des Glaubens, diesen Jemand: Jesus Christus, gegenwärtig im Sakrament des Altares. Er ist es, von dem der Mann derart in Bann geschlagen wird, dass er stundenlang an seinem Platz in der Kirche ausharrt.
In unseren Tagen blickt man gerne auf die „Tabernakelfrömmigkeit“ früherer Zeiten herab. Spöttisch lächelnd werden gewisse Redensarten der letzten Jahrhunderte – wie die von „Jesus, dem Gefangenen des Tabernakels, den wir besuchen und trösten sollen“ – als Beispiele für eine theologisch unhaltbare Frömmigkeit herbeizitiert. Solches sei spätestens mit den letzten liturgischen Reformen überwunden worden. Jetzt sehe man das Sakrament der Eucharistie nicht mehr isoliert, sondern wieder in das Gesamtgefüge kirchlichen Lebens eingebettet (was auch immer das genau bedeuten mag).
Es sei erlaubt, Zweifel an diesen Erfolgsnachrichten anzumelden. Ist es denn wirklich ein Erfolg, wenn man das Sakrament des Altares nun angeblich in größeren Zusammenhängen betrachtet, dabei aber praktisch davon absieht, dass hier derjenige gegenwärtig ist, vor dessen himmlischen Thron Tag und Nacht das Dreimalheilig der Engel erklingt und die Erlösten anbetend niederfallen (vgl. Apk 4)? Als wäre es einem wirklich gläubigen Katholiken überhaupt möglich, über diese Tatsache achselzuckend oder mit einer distanziert-sachlichen „Einbettung in das theologische Gesamtgefüge“ hinwegzugehen.
Auch entspricht die Behauptung, man habe die „Tabernakelfrömmigkeit“ überwunden, einfach nicht den Tatsachen. Zwar ist das Bewusstsein von der Realpräsenz tatsächlich im Kirchenvolk weithin verschwunden; vielerorts beugen die Gottesdienstbesucher beim Betreten der Kirche kaum noch die Knie, von einem anbetenden Verweilen vor dem Allerheiligsten ganz zu schweigen. Aber es ist doch gleichzeitig zu beobachten, dass zahlreiche Menschen weiterhin und sogar in wachsendem Maße die eucharistische Anbetung suchen. Eine erfreuliche Entwicklung in Kirchengemeinden und geistlichen Gemeinschaften zeichnet sich ab.
Allerdings findet der Bauer von Ars auch dort für gewöhnlich wenige Nachahmer. Sei es, dass sie niemals zum Schweigen vor Gott hingeführt wurden, sei es, dass sie vom Virus des „horror vacui“ infiziert wurden: Jedenfalls haben die meisten Beter vor dem Tabernakel, ja sogar vor dem ausgesetzten Sakrament nichts Eiligeres zu tun, als sogleich ihren Rosenkranz oder ein Gebetbuch zu zücken. In öffentlichen Anbetungsstunden wird oft ununterbrochen laut, manchmal sehr laut gebetet und nur selten eine Unterbrechung von einigen Minuten einberaumt. Das könne man den Gläubigen nicht zumuten, lautet die vielsagende Erklärung.
Zugegeben, einem Konzertbesucher, der für den Abend bezahlt hat, muss mehr geboten werden als die 4 Minuten und 33 Sekunden des John Cage. Im Sakrament des Altares aber wird uns so viel „geboten“, dass es dem gläubigen Menschen eigentlich für längere Zeit ausreichen sollte. Hier sind wir an der ersehnten Stätte wahrer Freiheit angekommen, an der wir uns auch von religiösem Pflichtdruck („...was ich noch alles zu beten habe!“) freimachen dürfen.
Wenn wir gläubig zu Jesus aufblicken und uns von Ihm angesehen wissen, führt Er uns heraus aus dem unruhigen Auf-und-ab einer zerrissenen Welt, hinein in die Geheimnisse der Welt Gottes. Und stärkt uns gerade dadurch für unsere Aufgabe in dieser Welt. Warum sollten nicht auch wir eines Tages mit jenem Bauern sprechen können: „Ich schaue Ihn an, Er schaut mich an. Das ist genug“?
Der Autor ist Mitglied der Priesterbruderschaft St. Petrus und in deren Priesterseminar in Wigratzbad tätig.