Als das Thema dieser Nummer, nämlich „Stille“ feststand, war mir klar: Ich muss dieses Buch, das ich vor vielen Jahren erstmals gelesen hatte, wieder aus dem Bücherregal holen…
Es besteht aus den Tagebuch-Aufzeichnungen eines holländischen Priesters, Psychologen und Autors zahlreicher geistlicher Bücher, Henri Nouwen, die er während eines siebenmonatigen Aufenthaltes in einem Trappisten-Kloster in den USA gemacht hat. Sein Titel: Ich hörte auf die Stille.
Faszinierend, obwohl scheinbar nichts Besonderes geschieht. Es berichtet von regelmäßigen Gebetszeiten, einfachen Beschäftigungen: Unmengen von Rosinen waschen für die Brote, die im Kloster hergestellt werden, Steine für den Kirchenbau aus dem Bachbett schleppen, Bücher lesen, Briefe schreiben… Vor allem aber lässt der Autor den Leser teilhaben an seinen inneren Erlebnissen im Umgang mit der vielen Stille, dem Schweigen, dem auf Gott ausgerichteten Leben im Kloster.
Wie oft habe ich mich in Nouwens Reaktionen wiedererkannt: in seiner inneren Unrast, seinem Bemühen um „richtiges“ Beten, sein Selbstmitleid, seine Gespaltenheit zwischen Aktivitätsdrang und Sehnsucht nach dem Zur-Ruhe-Kommen… Eine Fundgrube für Anregungen zu einem vertieften Glaubensleben sind die Gespräche, die Nouwens mit dem Trappisten-Abt John Eudes aufgezeichnet hat. Sie sind Seelenführung nicht nur für den Autor des Buches, sondern auch für dessen Leser.
Wie lehrreich sie sind, zeigt ein Auszug aus dem Gespräch, in dem Nouwens seinen Eindruck zur Sprache bringt, er habe meist eiligere und wichtigere Dinge zu tun als zu beten:
John Eudes' Antwort war klar und einfach. „Die einzige Lösung besteht darin, dass Sie Ihrem Gebet eine feste Ordnung geben, die Sie niemals ohne Rücksprache mit Ihrem geistlichen Führer umstoßen. Setzen Sie eine vernünftige Zeit fest, und wenn Sie sie einmal festgesetzt haben, halten Sie sich um jeden Preis daran. Machen Sie das zu Ihrer wichtigsten Aufgabe. Lassen Sie es jeden wissen, dass diese Ordnung das einzige ist, was sie nicht ändern, und beten Sie zu dieser Zeit. Für den Anfang wäre eine Stunde am Morgen vor Beginn der Arbeit und eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen das Richtige.
Legen Sie die genaue Zeit fest und richten Sie sich danach. Verlassen Sie eine Zusammenkunft, wenn sich dieser Zeitpunkt nähert. Machen Sie es sich selbst unmöglich, irgendeine Arbeit zu erledigen, und sei sie noch so dringend, wichtig und entscheidend. Wenn Sie treu bleiben, werden Sie langsam entdecken, dass es nutzlos ist, in dieser Zeit über Ihre vielen Probleme nachzudenken, weil Sie sie ohnehin in dieser Zeit nicht anpacken. Dann beginnen Sie während dieser freien Stunden zu sich selbst zu sagen: Da ich jetzt nichts zu tun habe, kann ich genau so gut beten. Auf diese Weise wird das Beten so wichtig wie das Essen und das Schlafen, und die dafür frei gemachte Zeit wird zu einer sehr befreienden Zeit, an der Sie im guten Sinne hängen werden.“
„Am Anfang,“ sagte John Eudes, „werden Ihre Gedanken umherwandern, aber nach einiger Zeit werden Sie entdecken, dass es leichter wird, ruhig in der Gegenwart des Herrn zu verweilen. (…) Denn in dieser nutzlosen Stunde, in der Sie nichts ,Wichtiges' oder ,Dringendes' tun, müssen Sie sich mit Ihrer grundlegenden Ohnmacht auseinandersetzen, und Sie müssen Ihre fundamentale Unfähigkeit erfahren, Ihre und anderer Leute Probleme zu lösen oder die Welt zu verändern. Wenn Sie dieser Erfahrung nicht ausweichen, sondern sie durchleben, werden Sie nach und nach einsehen, dass Ihre vielen Vorhaben, Pläne und Verpflichtungen gar nicht so dringend, entscheidend und wichtig sind, wie Sie gemeint hatten, und sie werden ihre Macht über Sie verlieren. Sie belästigen Sie während Ihrer Zeit mit Gott nicht mehr und nehmen den ihnen angemessenen Platz in Ihrem Leben ein.“
Nouwens beschließt, den Ratschlag umzusetzen und berichtet über die Erfahrungen am nächsten Morgen:
Heute morgen fand ich es geradezu komisch. Ich konnte zusehen, wie meine Gedanken wild durcheinander stoben und nirgends ankamen. Ich hörte mich selbst sagen: „Da ich auf jeden Fall diese halbe Stunde hier bin, kann ich genau so gut beten.“ Ich spürte, wie sich meine Nervosität langsam legte, und die Zeit verging sehr schnell.
Eine Erfahrung im Gebet besteht darin, dass es so aussieht, als geschehe nichts. Aber wenn man durchhält und auf einen längeren Zeitraum des Gebetes zurückblickt, stellt man mit einem Mal fest, dass sich doch etwas abgespielt hat. Wirklichkeiten, die uns sehr nahe, sehr persönlich und ganz gegenwärtig sind, können wir oft nicht direkt wahrnehmen, sondern wir brauchen einen gewissen Abstand von ihnen. Wenn ich den Eindruck habe, dass ich nichts als zerstreut bin und dass ich meine Zeit vergeude, so geschieht in Wirklichkeit doch etwas, aber es ist zu unmittelbar, als dass ich es erkennen, verstehen oder empfinden könnte. Nur im Rückblick kann ich feststellen, dass sich etwas sehr Wichtiges ereignet hat.
Zum Schluss noch eine Passage, in der Nouwens Bilanz zieht:
Als ich ein kleines Kind war, lehrte mich meine Mutter das schlichte Gebet: „Alles für dich, mein lieber Jesus.“ Das ist ein ganz einfaches Gebet, aber es ist schwer zu verwirklichen. Ich machte die Entdeckung, dass mein Leben wohl eher dem Gebet entsprach: „Jesus, lass uns miteinander teilen, etwas für dich und etwas für mich.“ (…)
Die vergangenen sieben Monate haben mir gezeigt, wie anspruchsvoll die Liebe Gottes ist. Ich werde erst dann wirklich glücklich sein, wenn ich mich Ihm total und bedingungslos ausgeliefert habe. Mein Wunsch und mein Ziel bestehen darin, „einfältig“ zu sein, „nur eines zu wollen“. Dann kann ich viele Schmerzen und Verwirrungen loslassen, die sich aus einem geteilten Geist ergeben. Wenn man Gott erlaubt, im Mittelpunkt seines Lebens zu stehen, wird das Leben einfacher, einheitlicher und konzentrierter. (…)
Mein Aufenthalt hat in mir einen wirklich neuen Sinn für Gemeinschaft geweckt. Als ich spürte, dass ich von der Kommunität angenommen wurde, dass meine Fehler kaum kritisiert, meine guten Taten kaum gelobt wurden, dass ich nicht ständig um Anerkennung kämpfen musste und dass ich auf einer tieferen Ebene als der meiner augenblicklichen Erfolge oder Misserfolge geliebt wurde, konnte ich einen viel tieferen Kontakt mit mir selbst und mit Gott treten.
Gott ist die Nabe unseres Lebensrades. Je näher wir Gott kommen, desto näher kommen wir auch zueinander. Was unsere Gemeinschaft zusammenführt, sind nicht in erster Linie unsere Gedanken, Gefühle und Empfindungen füreinander, sondern das ist unser gemeinsames Suchen nach Gott. Wenn wir unsere Gedanken und Herzen beharrlich auf Gott ausgerichtet halten, finden wir auch besser zueinander. Während meines Aufenthaltes in der Abtei habe ich gesehen und erfahren, wie viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und mit ganz verschiedenem Charakter miteinander in Frieden leben können. Sie können das nicht, weil sie sich gegenseitig so zueinander hingezogen fühlen, sondern weil sie gemeinsam von Gott, ihrem Herrn und Vater, angezogen werden.
Ich hörte auf die Stille – ein Buch, das ich wirklich empfehlen möchte. Es führt uns vor Augen, wie oberflächlich wir meist leben, wie notwendig es ist, in den wachsenden Trubel unserer Zeit Perioden der Stille einzubauen, Abstand vom Alltag zu nehmen, um Gottes Wirken Raum zu geben.
CG
Ich hörte auf die Stille. Sieben Monate im Trappistenkloster. Von Henri J.M. Nouwen. Herder 1978, 205 Seiten. 13,90 Euro kostet die neueste von mittlerweile vielen Auflagen.