Anfang Oktober wurde Kardinal Sarahs neues Buch La force du silence in Rom vorgestellt (siehe oben). Es weist auf ein Phänomen hin, das in seiner Bedeutung, vor allem für gläubige Menschen, gar nicht überschätzt werden kann: den Verlust der Stille in unserer Zeit. Welche schwer wiegenden Folgen das hat und wie dagegen anzukämpfen ist, illustrieren die folgenden Auszüge aus dem Buch:
Still werden
Kein Prophet ist Gott jemals begegnet, ohne sich in die Einsamkeit und die Stille zurückzuziehen. Moses, Elias, Johannes der Täufer sind Gott in der großen Stille der Wüste begegnet. Auch heute suchen die Mönche Gott in der Einsamkeit und der Stille. Ich spreche da nicht nur von Einsamkeit oder Ortsveränderung, sondern von einem inneren Zustand. Es reicht auch nicht, einfach nur zu schweigen. Man muss still werden.
Denn noch vor der Wüste, der Einsamkeit und der Stille, ist Gott schon im Menschen anwesend. Die wahre Wüste befindet sich in uns, in unserer Seele. Wenn wir das begreifen, können wir verstehen, dass die Stille die unbedingte Voraussetzung dafür ist, Gott zu finden. Der Vater erwartet Seine Kinder in deren Herzen. So muss man die innere Unruhe hinter sich lassen, um Gott zu finden. Trotz des Trubels, der Geschäftigkeit, der Vergnügungen bleibt Gott in aller Stille gegenwärtig.
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Vorrang für das Gebet
Jeder Handlung muss ein intensives Gebetsleben vorausgehen, ein Leben der Anbetung, der Suche nach dem Willen Gottes, des Hörens auf Sein Wort. In seinem apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte erklärt Johannes Paul II.: „Wichtig ist jedoch, dass alles, was wir uns mit Gottes Hilfe vornehmen, tief in der Betrachtung und im Gebet verwurzelt ist. Unsere Zeit ist in ständiger Bewegung, die oft den Zustand der Ruhelosigkeit erreicht, mit der Gefahr des ,Machens um des Machens willen’. Dieser Versuchung müssen wir dadurch widerstehen, dass wir versuchen zu ,sein’, bevor wir uns um das ,Machen’ mühen.“
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Je mehr Ruhm und Ehre wir als Laien, Priester oder Bischöfe ernten, je höher die Würdigungen, je mehr öffentliche Verantwortung uns übertragen wird, je mehr Prestige und Ämter, umso mehr müssen wir in der Demut wachsen und sorgsam den heiligen Bezirk unseres Innenlebens pflegen: fortgesetzt das Antlitz Gottes im Gebet, in der Anbetung, der Betrachtung und der Askese suchen.
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Klein werden vor Gott
Wie aber gelangt man dazu, die innere Ruhe zu bewahren? Die einzige Antwort heißt Askese, Selbstverleugnung und Demut. Wenn der Mensch sich nicht ganz klein vor Gott macht, sondern so bleibt, wie er ist, bleibt er von Gott entfernt.
Wenn die Christen des Ostens Gott sehen wollen, knien sie nieder und verneigen sich mit dem Gesicht zur Erde als Zeichen freiwilliger Erniedrigung und respektvoller Ehrerbietung. Ohne starkes Verlangen, von sich selbst loszukommen und sich vor dem Ewigen klein zu machen, gibt es kein Gespräch mit Gott. Ebenso gibt es keine Begegnung mit einem anderen, wenn man nicht selbst still sein kann. Wenn wir bleiben, wie wir sind, erfüllen uns Lärm, Fantasien, Ärger.
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Unsere Zeitgenossen meinen, das Gebet bestehe darin, Gott etwas zu sagen, laut und aufgeregt. Das Gebet ist jedoch viel einfacher. Es besteht darin, Gott in der Stille zuzuhören. Warum nehmen wir uns nicht den betenden Jesus zum Vorbild?
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Die Stille – obwohl schwer zu erreichen – setzt den Menschen instand, sich von Gott leiten zu lassen. Durch den stillen Gott können wir zur Stille gelangen. Dann staunt der Mensch stets aufs Neue, welches Licht da erstrahlt.
Die Stille ist wichtiger als jedes andere menschliche Werk. Denn sie drückt Gott selbst aus. Die wahre Revolution kommt aus der Stille; sie führt uns zu Gott und zu den anderen, damit wir ihnen großzügig und demütig dienen.
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Kein Raum für Stille
Unsere Welt hört Gott nicht, weil sie ununterbrochen, überwältigend in Ausmaß und Kadenz spricht – und dabei nichts sagt. (…) Vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zum Morgen – nirgends Raum für die Stille. Dieser Lärm will Gott daran hindern zu sprechen. In diesem Höllenlärm löst sich der Mensch auf, geht er verloren; er löst sich auf in Sorgen, Wahnvorstellungen, Ängsten. Um diesen Tunneln der Depression zu entkommen, sehnt er sich verzweifelt nach Lärm, damit dieser ihn tröste. Der Lärm ist jedoch ein betrügerischer Angstlöser, der süchtig macht. (…) Diese Epoche hasst, was uns die Stille einbringen würde: die Begegnung mit Gott, das Entzücken an Ihm, das Niederknien vor Ihm.
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Wüstentage
In meiner Sehnsucht, Gott zu sehen und zu hören, habe ich oft die Erfahrung der Einsamkeit und der Stille in der Wüste gesucht. Als ich Erzbischof von Conakry war, ging ich oft an einen unbewohnten Ort, um in die Einsamkeit und Stille einzutauchen. Sicher, es gab Vegetation rund um mich. Ich hörte die Vögel zwitschern. Aber ich hatte mir eine innere Wüste, ohne Wasser und Nahrung, geschaffen. Kein Mensch weit und breit. Im Fasten und Beten lebte ich ausschließlich von der Eucharistie und dem Wort Gottes. Die Wüste ist der Ort, an dem Hunger und Durst herrscht – und ein geistiger Kampf. Es ist lebenswichtig, sich in die Wüste zurückzuziehen, um gegen die Diktatur einer Welt zu kämpfen, die voller Idole ist, vollgestopft mit Technik und materiellen Gütern, eine von den Medien beherrschte und manipulierte Welt, eine Welt, die vor Gott flieht, um sich häuslich im Lärm einzurichten. Man muss dieser modernen Welt helfen, die Erfahrung der Wüste zu machen. Dort gewinnen wir Abstand zum Alltag. Wir entfliehen dem Lärm und der Oberflächlichkeit. Die Wüste ist der Ort des Absoluten, der Ort der Freiheit.
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Heilige Orte aufsuchen
Jesus selbst hat darauf hingewiesen, an welchen schönen Orten der Mensch allein und still sein kein. Da ist zunächst unsere vertraute Stube, wenn wir hinter uns die Türe geschlossen haben, um allein zu sein, in der geheimnisvollen Intimität mit Gott. Es ist auch das Dämmerlicht einer Kapelle, Ort der Einsamkeit, der Stille, der Vertrautheit, wo uns die Präsenz schlechthin, Jesus in der Eucharistie, erwartet. Es sind auch die heiligen Orte, die Klöster, die es uns ermöglichen, einige Tage in der Gegenwart des Herrn zu verbringen. Schließlich sind es die Gotteshäuser, unsere Kirchen, wenn Priester und Gläubige darauf achten, deren geheiligten Charakter zu bewahren, damit sie nicht zu Museen, Theater- oder Konzertsälen verkommen, sondern heilige Orte bleiben, dem Gebet und Gott vorbehalten.
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Der Priester: Ein Mann der Stille
Der Priester ist ein Mann der Stille. Er muss stets darauf ausgerichtet sein, auf Gott zu hören. Mission und Pastoral, wenn sie wirklich Tiefe haben sollen, können nur aus dem stillen Gebet erwachsen. Ohne Stille verkommt das Priestertum. Der Priester muss in den Händen des Heiligen Geistes sein. Entfernt er sich vom Geist, ist er dazu verurteilt, nur Menschenwerk auszuführen.
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Eine Million betet an
2011, anlässlich der Weltjugendtage in Madrid, sollte Papst Benedikt XVI. während der großen Vigil eine Ansprache an die Jugendlichen der ganzen Welt halten. Als er das Wort ergreifen wollte, hat sich plötzlich ein Gewitter entladen. Gemeinsam mit den Jugendlichen hat der Papst das Ende des Gewitters abgewartet. Als sich endlich alles wieder beruhigt hatte, reichte ihm sein Zeremoniär den vorbereiteten Redetext. Der Papst zog es jedoch vor, die Zeit für das Wesentliche zu nützen. Statt zu reden, lud er die Jugendlichen ein, mit ihm in Stille anzubeten. Auf den Knien vor dem Heiligsten Sakrament hat Benedikt XVI. durch seine Stille gepredigt. Mehr als eine Million Jugendliche, nass bis auf die Knochen mitten im Schlamm, waren da versammelt. Und dennoch lag über dieser Versammlung eine eindrucksvolle heilige Stille, „erfüllt mit angebeteter Gegenwart“ im wahrsten Sinn des Wortes. Ein unvergessliches Ereignis: die Kirche in großer Stille versammelt um ihren Herrn.
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Werkzeug Gottes werden
Die mit Gottesfurcht und Anbetung erfüllte Stille abzulehnen, bedeutet, Gott die Freiheit zu nehmen, uns durch Seine Liebe und Gegenwart zu erfassen. In der geheiligten Stille kann sich der Mensch freudig Gott verfügbar machen. So gibt man die überhebliche Haltung auf, die meint, Gott müsse alle Launen Seiner Kinder erfüllen. Welches Geschöpf könnte sich rühmen, über Gott zu verfügen? Die geheiligte Stille bietet uns im Gegensatz dazu die Gelegenheit, die profane Welt mit dem nicht enden wollenden Tumult unserer Großstädte zu verlassen, um uns von Gott ergreifen zu lassen.
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Letzter Rettungsanker
Als ich Länder bereiste, die von schweren, gewalttätigen Krisen betroffen waren, stellte ich fest, wie sehr das Gebet jenen, die nichts mehr hatten, helfen konnte. Die Stille war der letzte Schützengraben, in den niemand eindringen konnte, der einzige Raum, in Frieden zu verweilen, ein Zustand, in dem das Leiden für einen Augenblick die Waffen streckte. Die Stille stärkt uns, wenn wir schwach sind. Die Stille rüstet uns mit Geduld aus. Die von Gott erfüllte Stille schenkt erneut Mut. (…) Dann verliert die Macht der Peiniger ihre Bedeutung. Die rasenden Kriminellen mögen alles zerstören – aber in die Stille, in das Herz und das Gewissen des Menschen können sie nicht einbrechen. Der stille Herzschlag, die Hoffnung, der Glaube, das Gottvertrauen sind unversenkbar. Rundherum geht die Welt zugrunde; aber im Inneren der Seele, in der größten Stille, wacht Gott. Krieg, Barbarei und aller möglicher Horror werden nie imstande sein, Gott in uns zu besiegen.
Auszüge aus: La Force du Silence – Contre la Dictatur du Bruit. Von Kardinal Robert Sarah mit Nicolas Diat. Fayard, 374 Seiten, 21,90 Euro. Erscheint auf Deutsch im Februar im fe-medienverlag.