VISION 20001/2017
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Christus: Zentrum jeder Erneuerung

Artikel drucken Analyse der Kirchen- und Glaubenskrise heute – sowie Suche nach Auswegen (Von Erzischof Georg Gänswein)

In der Welt und für die Welt da sein, aber nicht von der Welt sein: In dieser Spannung zwischen Weltzuwendung und Entweltlichung liegt biblisches Urgestein. Christen leben in der Welt und sind berufen, ihr zu dienen und in ihr zu wirken. Sie dürfen sich aber nicht der Welt anpassen.
Deshalb wird es zwischen den Sphären der Welt und des Christseins unvermeidlich Reibungen geben, auch Reibungen, die bis zum Hass gegenüber jenen gehen können, die sich in den Mainstream der Welt und der heutigen Zeit nicht einfach einschmelzen lassen. Um diesem Hass zu entgehen, stehen Christen und die Kirche immer wieder in der Versuchung, sich nun doch der Welt anzupassen und sein zu wollen wie alle anderen.
Auch diese Versuchung, die bis ins Mark des Glaubens gehen kann, ist biblisches Urgestein. Ein berühmtes und unrühmliches Beispiel ist die Einrichtung des Königtums im Volk Israel.
Ausgerechnet das Königtum, aus dem der Messias hervorgehen wird, war ursprünglich von Gott weder vorgesehen noch gewollt. Seine Etablierung muss vielmehr verstanden werden als Ausdruck einer ungeheuren Rebellion des Volkes Israel gegen Jahwe, als Zeichen seines Abfalls vom wahren Willen Gottes und als Konsequenz der übermäßigen Anpassung Israels an die Welt.
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Sein zu wollen wie alle anderen Völker ist eine Grundversuchung auch in der Kirche heute. Sie ist vor allem dort wirksam, wo das konziliare Grundwort „Volk Gottes“ immer weniger vom biblischen und immer mehr vom soziologischen Sprachgebrauch her verstanden wird.
Die alttestamentliche Geschichte von der Etablierung des Königtums in Israel und das ihr zugrunde liegende Sein-Wollen wie die anderen, das offensichtlich kein einmaliges Ereignis geblieben ist, sind uns als bleibende  Warnung vor Augen gestellt, dass das Volk Gottes immer auf der Hut sein muss vor der Angleichung an die Welt.
Die entscheidende Anpassung, die von uns Christen und von der Kirche immer wieder gefordert ist, ist in erster Linie nicht Anpassung an die moderne Zeit und ihren Geist, sondern Anpassung an die Wahrheit des Evangeliums: „Die Krise des kirchlichen Lebens beruht letztlich nicht auf Anpassungsschwierigkeiten gegenüber unserem modernen Leben und Lebensgefühl, sondern auf Anpassungsschwierigkeiten gegenüber dem, in dem unsere Hoffnung wurzelt und aus dessen Sein sie ihre Höhe und Tiefe, ihren Weg und ihre Zukunft empfängt: Jesus Christus und Seiner Botschaft vom ‚Reich Gottes‘.“
Im Licht dieses Bekenntnisses leuchten die zentralen Anliegen von Papst Benedikt XVI., die er mit dem Stichwort der Entweltlichung verbindet, erst recht auf.
In diesem Licht wird freilich zunächst der Schatten sichtbar, nämlich die elementare Krise, in der sich die Kirche heute befindet. In erster Linie zeigt sich dabei eine pastorale Krise. Es stellt sich stets deutlicher die Frage, was wir in der Pastoral eigentlich tun, wenn wir Kinder taufen, deren Eltern keinen Zugang zu Glaube und Kirche haben, wenn wir Kinder zur Erstkommunion führen, die nicht wissen, wen sie in der Eucharistie empfangen, wenn wir Jugendliche firmen, für die das Sakrament nicht die endgültige Eingliederung in die Kirche, sondern die Verabschiedung von ihr bedeutet, und wenn das Ehesakrament bloß der Verschönerung einer Familienfeier dient.
Selbstverständlich gibt es auf diese Fragen keine einfachen und schnellen Antworten, aber sie müssen als ernsthafte Herausforderungen wahrgenommen werden.
Hinter der pastoralen Krise verbirgt sich eine noch tiefer liegende Krise, die darin besteht, dass wir heute mitten in einem epochalen Wandel stehen, ohne dass schon neue Horizonte sichtbar würden, die anzeigen, wie es weitergehen soll.
Wir erleben gegenwärtig das Zu-Ende-Gehen jener Epoche der Kirchengeschichte, die man als „konstantinisch“ bezeichnen kann. Denn das Strukturganze, das der seelsorglichen Praxis zugrunde liegt, bricht immer mehr auseinander. Die gesellschaftlichen Stützen der Volkskirche, die bisher das Christwerden und Kirchesein getragen haben, verschwinden mehr und mehr. Christsein und Zugehörigkeit zur Kirche sind weithin nicht mehr von einem volkskirchlichen Milieu getragen, sondern immer mehr die Angelegenheit persönlicher Entscheidung Einzelner geworden.
Die bisherige volkskirchliche Gestalt der Kirche kann deshalb nicht ein in die Zukunft weisendes Modell der Kirche im neuen Jahrtausend sein.
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Papst Benedikt (ist} überzeugt, dass die Kirche einen guten Weg in die Zukunft nur finden kann, wenn sie dieser neuen kirchlichen Situation Rechnung trägt und sich den stattfindenden Wandlungsprozessen aussetzt. Dazu gehört auch die Bereitschaft, herkömmliche Privilegien und daraus folgende Besonderheiten wie z.B. die hohe Organisationsstruktur zu überdenken und sich die Frage gefallen zu lassen: „Steht hinter den Strukturen auch die entsprechende geistige Kraft  – Kraft des Glaubens an den lebendigen Gott?“
Indem der Papst einen „Überhang an Strukturen gegenüber dem Geist“ diagnostizierte, formulierte er als Schlussfolgerung: „Die eigentliche Krise der Kirche in der westlichen Welt ist eine Krise des Glaubens. Wenn wir nicht zu einer wirklichen Erneuerung des Glaubens finden, werden alle strukturellen Reformen wirkungslos bleiben.“
Entweltlichung erweist sich von daher nicht als eine Forderung, die Benedikt XVI. von außen an die Kirche heranträgt. Mit diesem Stichwort formuliert er vielmehr die Konsequenz, die sich aus der sensiblen Wahrnehmung der heutigen Situation der Kirche von selbst ergibt.
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Das Stichwort Entweltlichung fordert zu einer intensiven Auseinandersetzung über die Qualität der Krise heraus, die wir heute in der Kirche erleben. Wie jeder Arzt nur dann hilfreiche Therapieanweisungen formulieren kann, wenn eine klare Diagnose gegeben ist, so können auch in der Kirche nur dann gemeinsame Wege in die Zukunft beschritten werden, wenn man sich über die Diagnose hinsichtlich der gefährlichen Infekte im Klaren ist. Daran aber hapert es.
Während auf der einen Seite bestritten wird, dass die Kirche in einer Glaubenskrise steht, und zugleich behauptet wird, es handle sich allein um eine Kirchenkrise oder gar nur um eine Krise der Kirchenleitung, so geht die andere Seite davon aus, dass sich die Kirche in Westeuropa in einer epochalen Glaubenskrise befindet, die auf einem gefährlichen Bruch mit der gesamten abendländischen Glaubens­tradition beruht. Diese Beurteilung erfordert eine intensive Suche nach den eigentlichen Krisenherden in der Kirche heute.
Beim ersten Hinsehen muss man zunächst von einer tiefgreifenden Kirchenkrise sprechen, die sich seit den sechziger Jahren im Slogan „Jesus ja – Kirche nein“ artikuliert. Doch bereits dieser Slogan hebt die genannte Krise auf die Ebene des Glaubens, weil man Jesus und die Kirche, die Er gewollt hat und in der Er gegenwärtig ist, nicht voneinander trennen und ohne Christus das eigentliche Wesen der Kirche gar nicht verstehen kann. Auch auf diese Wunde hat Papst Benedikt während seines Deutschlandbesuchs den Finger gelegt:
„Manche bleiben mit ihrem Blick auf die Kirche an ihrer äußeren Gestalt hängen. Dann erscheint die Kirche nur mehr als eine der vielen Organisationen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft, nach deren Maßstäben und Gesetzen dann auch die so sperrige Größe ‚Kirche‘ zu beurteilen und zu behandeln ist. Wenn dann auch noch die leidvolle Erfahrung dazukommt, dass es in der Kirche gute und schlechte Früchte, Weizen und Unkraut gibt, und der Blick auf das Negative fixiert bleibt, dann erschließt sich das große und schöne Mysterium der Kirche nicht mehr. Dann kommt auch keine Freude mehr auf über die Zugehörigkeit zu diesem Weinstock ‚Kirche‘.“
Im Licht des Glaubens muss der Slogan „Jesus ja – Kirche nein“ als mit der Intention Jesu unvereinbar und in diesem elementaren Sinn als unchristlich beurteilt werden.
Er ist aber zugleich als Signal dafür zu werten, dass sich hinter der sogenannten Kirchenkrise letztlich eine Krise des Christusglaubens verbirgt. Denn der eigentliche Gegensatz, dem wir uns zu stellen haben, ist noch nicht durch die Formel „Jesus ja – Kirche nein“ zum Ausdruck gebracht, sondern muss mit dem Wort umschrieben werden: „Jesus ja – Christus nein“ oder „Jesus ja – Sohn Gottes nein“ . Erst in dieser Formel wird jener beunruhigende Bedeutungsverlust des christlichen Glaubens an Jesus als den Christus sichtbar, den wir heute feststellen müssen.
Denn selbst in der Kirche will es heute oft nicht mehr gelingen, im Menschen Jesus das Antlitz des Sohnes Gottes selbst wahrzunehmen und in ihm nicht einfach einen, wenn auch besonders guten und herausragenden Menschen zu sehen.
Mit dem christologischen Glaubensbekenntnis steht und fällt der christliche Glaube. Wenn Jesus nur ein Mensch gewesen wäre, dann wäre Er unwiderruflich in die Vergangenheit zurückgetreten; und nur unser eigenes fernes Erinnern könnte Ihn dann mehr oder weniger deutlich in unsere Gegenwart hereinholen. So aber wäre Jesus nicht der einzige Sohn Gottes, durch den wir leben und in dem Gott selbst bei uns ist.
Nur wenn unser Glaube wahr ist, dass Gott selbst Mensch geworden und Jesus Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist und so Anteil hat an der Gegenwart Gottes, die alle Zeiten umgreift, kann Jesus Christus nicht bloß gestern, sondern auch heute unser wirklicher Zeitgenosse und das Licht unseres Lebens sein.
Nur wenn Jesus nicht nur ein Mensch vor zweitausend Jahren gewesen ist, sondern als Sohn Gottes auch heute lebt, können wir Seine Liebe erfahren und ihm vor allem in der Feier der Heiligen Eucharistie begegnen.
Da im Christusbekenntnis immer schon der Glaube an den lebendigen Gott enthalten ist, der in die Geschichte der Menschheit eingetreten und Fleisch geworden ist und als Mensch unter Menschen gelebt hat, wird auch einsehbar, dass die heutige Krise des Christusglaubens ihre radikale Zuspitzung in einer Krise des Gottesglaubens findet.
Die eigentliche Glaubenskrise, die wir heute erleben, liegt im weitgehenden Verblassen des biblisch-christlichen Gottes als eines in der Geschichte gegenwärtigen und handelnden Got­tes. Hierin wird sichtbar, dass der Gottesglaube sich in einen Deismus verdünnt hat, der selbst im kirchlichen Bewusstsein seinen Niederschlag findet und sich in den selbstverständlich gewordenen Ausnahmen ausdrückt: „Gott mag den Urknall angestoßen haben, wenn es Ihn schon geben sollte, aber mehr bleibt Ihm in der aufgeklärten Welt nicht. Es scheint fast lächerlich sich vorzustellen, dass Ihn unsere Taten und Untaten interessieren, so klein sind wir angesichts der Größe des Universums. Es erscheint mythologisch, Ihm Aktionen in der Welt zuzuschreiben.“
Es versteht sich von selbst, dass ein solchermaßen deistisch verstandener Gott weder zu fürchten noch zu lieben ist. Es fehlt die elementare Leidenschaft an Gott, die den christlichen Glauben auszeichnet; und darin liegt die tiefste Glaubensnot in der heutigen Zeit.
Auf dem Hintergrund dieser Diagnose einer elementaren Glaubenskrise lässt sich auch das Remedium verstehen, das Papst Benedikt vorschlägt und das darin besteht, die Gottesfrage wieder neu in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens und der Verkündigung zu stellen. In dieser Zentralität Gottes leuchtet auch der innerste Kern dessen auf, was unter Entweltlichung zu verstehen ist. Denn „nicht von der Welt“ zu sein bedeutet im biblischen Sinn, von Gott her zu sein und das Leben von Gott her zu betrachten und zu gestalten.
Entweltlichung heißt zuerst und zutiefst, wieder neu zu entdecken, dass Christentum im Kern Glaube an Gott und das Leben einer persönlichen Beziehung mit Ihm ist und dass alles andere daraus folgt.
Da neue Evangelisierung im Kern darin besteht, Gott zu den Menschen zu bringen und sie in eine persönliche Gottesbeziehung hinein zu begleiten, sind Neuevangelisierung und Entweltlichung zwei Seiten derselben Medaille.
Zentralität der Gottesfrage und christozentrische Verkündigung sind die elementaren Inhalte, um die es bei der Entweltlichung der Kirche gehen muss und die zu einer wahrhaften Erneuerung der Kirche führen, die nicht von außen an die Kirche herangetragen, sondern in ihrem Inneren verwirklicht wird und die nicht vom Rand, sondern von der Mitte der Kirche aus geschieht. Benedikts Forderung nach Entweltlichung als Programm einer katholischen Kirchenreform, die sich aufs Wesentliche konzentriert, heißt ganz einfach: Zeugnis geben für den Glauben.
Auf das Ablegen des Zeugnisses zielt in der Tat die Zumutung der Entweltlichung. Damit wird deutlich, dass Entweltlichung keinen Rückzug aus der Welt bedeutet, sondern im Gegenteil die Vorsorge dafür, dass das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche nicht nur klarer zutage tritt, sondern auch als glaubwürdig erscheint.
Auszüge aus dem Inaugurationsvortrag zur Eröffnung des akademischen Jahres 2015/16 der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz am 1. Oktober 2015. Der Titel des Vortrages lautete: „Entweltlichung“ und „Neuevangelisierung“:  Reizworte oder Leitmotiv einer Kirchenreform? Überlegungen im Anschluss an eine umstrittene Rede.

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