Die sexuelle Revoltion hat das Leben der Menschen massiv verändert. Es ist Zeit, sich über die Folgen Rechenschaft zu geben. Bestandsaufnahme aus der Sicht eines erfahrenen Beichtvaters:
Seit 46 Jahren bin ich Priester. In dieser Zeit habe ich etwa 12.000 Beichten gehört und hunderte Menschen als Seelenführer begleitet. Da hört man viel zu. Wenn man mehrere tausend Stunden im Leben mit Zuhören verbracht hat, wie es die meisten Priester tun, und dabei das Scheitern und die Verletzungen im Leben der Menschen mitbekommt – Männer, die ihre Frauen prügeln; Frauen, die ihre Männer betrügen; Alkohol- und Drogenabhängige; Diebe, Hoffnungslose, Selbstzufriedene und sich selbst Hassende –, dann bekommt man ein recht gutes Bild von der Welt, wie sie wirklich ist, und von ihrer Wirkung auf die menschliche Seele.
Der Beichtstuhl ist wahrhaftiger als jede Reality Show, weil da niemand zuschaut. Da bist nur du, Gott und die Büßer – und das Leiden, das sie mitbringen.
Was mich als Priester in den letzten 50 Jahren am meisten betroffen gemacht hat, ist der riesige Stachel, den sowohl Männer wie Frauen herumtragen und Promiskuität, Untreue, sexuelle Gewalt und Verwirrung als normalen Teil ihres Lebens beichten – und die enorme Rolle, die Pornographie bei der Zerstörung von Ehen, Familien, ja sogar von Priester- und Ordensberufungen spielt.
Eigentlich sollte das nicht verwundern. Sex ist mächtig. Sex ist anziehend. Sex ist ein Urinstinkt, eine elementare Lust. Unsere Sexualität ist aufs Intimste mit unserer Persönlichkeit verbunden; mit der Art, wie wir nach Liebe und Glück streben; wie wir die allgegenwärtige Einsamkeit in unserem Leben bekämpfen; und für die meisten Menschen ist sie ein Streben nach ein bisschen Fortdauer in unserer Welt und Geschichte, indem wir Kinder haben.
Der Grund, warum Papst Franziskus so dezidiert die „Gender-Theorie“ ablehnt, liegt nicht nur darin, dass ihr jede Art von wissenschaftlicher Evidenz fehlt – obwohl sie genau dieses Problem zweifellos hat. Vielmehr ist die Gender-Theorie eine Metaphysik, welche die wahre Natur der Sexualität zerstört, indem sie die Ergänzung männlich-weiblich, die unserem Leib eingeschrieben ist, leugnet. Dadurch ist sie ein Angriff auf einen Grundpfeiler unserer menschlichen Identität und Sinnfindung – und in der Folge ein Angriff auf unser gesellschaftliches Zusammenleben.
Aber zurück zum Beichtstuhl: Dass man im Sakrament der Buße von den Leuten etwas über sexuelle Verfehlungen zu hören bekommt, ist sicher nichts Neues. Aber der Umfang, das Zwanghafte, der Reiz des Neuen, die Gewalttätigkeit der Sünden – das ist neu. Dabei ist zu bedenken, dass nur Menschen zur Beichte kommen, die bereits einen gewissen Sinn für richtig und falsch haben; die schon begreifen, zumindest schemenhaft, dass sie ihr Leben ändern und nach Gottes Barmherzigkeit suchen sollten.
Dieses Wort Barmherzigkeit sollten wir näher untersuchen. Barmherzigkeit ist eine der kennzeichnenden und schönsten Eigenschaften Gottes. (…) Leider ist es auch ein Wort, das wir leicht missbrauchen können, um uns die harte Arbeit moralischer Argumentation und Bewertung zu ersparen. Barmherzigkeit ist absolut bedeutungslos – nichts als Sentimentalität – ohne klare Vorstellungen über moralische Wahrheiten.
Wir können niemandem gegenüber barmherzig sein, der uns nichts schuldet; der uns nichts angetan hat. Barmherzigkeit erfordert, dass zuvor ein ungerechter Akt gesetzt worden ist, der bereinigt werden muss. Und eine zufrieden stellende Gerechtigkeit beruht auf einem Rahmen höherer Wahrheit über den Sinn des Lebens; erfordert ein Verständnis von Wahrheit, das manches als gut, anderes als böse erkennen lässt; manches als lebenspendend, anderes als zerstörerisch.
Deswegen ist Folgendes wichtig: Die Wahrheit bezüglich unserer Sexualität ist, dass Untreue, Promiskuität, Verwirrung bezüglich der sexuellen Orientierung und massenhafte Pornographie menschliche Ruinen erzeugen. Man multipliziere diese Zerstörung zehnmillionenfach während fünf Jahrzehnten. Weiters mische man all das mit dem in den Medien verkündeten Unsinn von der Harmlosigkeit von Gelegenheitssex und den „glücklichen“ Kindern aus einvernehmlichen Scheidungen. Dann kommt eben heraus, was wir heute haben: eine Kultur, die nicht funktioniert und frustrierte, verwundete Menschen, unfähig, sich bleibend zu binden, Opfer zu bringen, dauerhafte Beziehungen zu pflegen – nicht bereit, sich wirklich ihren eigenen Problemen zu stellen.
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Wenn wir starke Familien wollen, brauchen wir starke Männer und Frauen, um sie zu gründen und aufrechtzuerhalten. Für die Kirche, die Familie von Familien, gilt dasselbe. Sie ist stark, wenn ihre Familien und ihre einzelnen Söhne und Töchter stark sind; wenn sie an das glauben, was sie lehrt, und mutig und eifrig Zeugnis von ihrer Botschaft geben.
Sie ist schwach, wenn ihre Leute zu lau oder zu bequem sind, leicht bereit, sich anzupassen oder schlicht und einfach zu viel Angst vor öffentlicher Ablehnung haben, um die Welt so zu sehen, wie sie nun einmal ist.
Wir können nur insoweit von „unserer“ Kirche sprechen, als wir uns zu ihr als unserer Mutter und Lehrerin in der Familie Gottes bekennen. Die Kirche gehört nicht uns. Wir gehören ihr. Und die Kirche gehört ihrerseits Jesus Christus, dem Garanten ihrer Freiheit, ob das Cäsar gefällt oder nicht.
Die Kirche ist frei, selbst in der schlimmsten Verfolgung. Sie ist frei, selbst wenn viele ihrer Kinder sie verlassen. Sie ist frei, weil Gott wirklich existiert, und sie hängt nicht von ihren Ressourcen, sondern von der Treue zu Seinem Wort ab. Aber ihre praktische Freiheit – ihre Glaubwürdigkeit, ihre Wirksamkeit, jetzt und hier in unserem gesellschaftlichen Umfeld – hängt von uns ab.
Der Autor ist Erzbischof von Philadelphia/USA, sein Beitrag ein Auszug aus seinem Vortrag zum „Sex, Familiy and the Liberty of the Church“ an der University of Notre Dame am 15.9.16