VISION 20003/2017
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Wahrhaft vergeben lernen

Artikel drucken Einübung in eine schwierige Kunst (Luc Adrian)

Je enger Beziehungen sind, umso mehr kann man mit Kränkungen verletzen. Wo daher die Liebe wachsen soll, muss man sich auch in der Kunst des Vergebens und des Bittens um Vergebung einüben. Im Folgenden neun Denkanstöße dazu.

Sich zunächst
selbst vergeben
Das ist keineswegs selbstverständlich und auch gar nicht so einfach. Sich selbst zu lieben, ist jedoch ein Gebot. Und es gibt keine Liebe ohne Vergebung. Daran denkt man zwar, wenn es sich um Gott und die Brüder handelt, man vergisst jedoch darauf, wenn es um uns selbst geht. Allzu oft käuen wir Schuldgefühle und Traurigkeit wieder: Wir sind mit uns unzufrieden, weil wir den Umständen nicht gerecht geworden sind, unser Wort nicht eingehalten oder einen Fehler – sogar einen mit gravierenden Folgen – gemacht haben! Wenn uns unsere Geschichte daran hindert, in Frieden zu leben und ganz wir selbst zu sein, so ist das ein Zeichen dafür, dass wir vergeben sollten: uns und den anderen.

Vergeben und Vergessen nicht verwechseln
Zu vergeben besteht nicht darin, die Verletzung zu verleugnen oder sie so gut wie möglich zu verdrängen. Im Gegenteil: Sich auf den Weg der Vergebung zu machen, bedeutet, der Wahrheit ans Licht zu verhelfen. Um verzeihen zu können, muss man sich zunächst bewusst machen, dass man verletzt worden ist, ja, die Kränkung beim Namen nennen – sei man nun Opfer oder Urheber.

Vergebung nicht
instrumentalisieren
Man kann die Vergebung als Mittel verwenden, den anderen niederzudrücken, zu manipulieren, ihn doppelt schuldig zu machen: „Du bist nicht nur schuld an meiner Verletzung, sondern mir auch zu Dank verpflichtet, weil ich dir in meiner großen Güte vergebe.“ So eine Pseudo-Vergebung ist das Gegenteil wahrhafter Barmherzigkeit. Sie ist vollkommen daneben, weil sie nicht von Liebe, sondern von Stolz und Bosheit bestimmt ist.


Die eigenen
Absichten läutern
Wie unterscheidet man falsche von wahrer Vergebung? Da bieten sich mehrere Unterscheidungskriterien an. Zum Beispiel: Bin ich bereit, als erster um Vergebung zu bitten? Soll meine Vergebung zum Wachstum des anderen beitragen – insbesondere seines Selbstwertgefühls? Bin ich bereit zu verzeihen, noch bevor mich der andere darum bittet? Bin ich imstande zu vergeben, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wenn dies den anderen demütigen würde? Bin ich bereit, den rechten Moment abzuwarten, um meine Vergebung kundzutun – im Bewusstsein, dass dieser vielleicht nie kommen wird?

Keine Angst vor
dem Vergeben
Zu vergeben birgt keine Gefahr, das Nicht-Vergeben jedoch sehr wohl! Warnung vor dem Schein. Denn nichts ist der Vergebung (der Liebe, der Heiligkeit) ähnlicher als ihr Schein. Und was das Schamgefühl vor einem solchen Schritt der (erteilten oder erbetenen) Vergebung anbelangt, sei daran erinnert, dass sie auf tausend andere Weisen als mit Worten ausgedrückt werden kann.

Vergebung in
Worten und Taten
Um Vergebung zu bitten, sie zu gewähren, dazu braucht es manchmal keine Worte – aber um wie viel besser ist es, wenn man es ausspricht! Den Mund auftun und sagen: „Bitte vergib!“ oder: „Ich vergebe dir“ ist Zeichen, dass man sein Herz öffnet. Natürlich kann man die Vergebung auch anders äußern: z.B. mit einem Kuss. Ein Lächeln, eine freundliche Geste, ein nettes Wort können deutliche Zeichen der Vergebung sein, auch wenn sie nicht immer Ersatz für das Wort sein können.

Vergeben braucht Zeit
Sie kann sogar viel Zeit brauchen. Manche Charaktere tun sich viel schwerer, eine neue Seite aufzuschlagen als andere. Man muss ihrem Rhythmus Rechnung tragen. Entscheidend ist nicht, dass man rasch vergibt, sondern wahrhaft. Wer rasch verzeihen kann, tut sich dafür oft schwer, die Größe der Kränkung zu erkennen. Ihm muss man helfen zurückzublicken, um das wahre Ausmaß der erlittenen oder verursachten Verletzungen zu erfassen. Freuen wir uns nicht zu schnell darüber, dass jemand scheinbar alles vergessen hat. Vergessen ist nicht gleich Vergebung.

Vergeben – um
jeden Preis
„Es ist zu spät“ ist eine Lüge des Satans. Er ist es, der uns suggeriert, dass unsere Dramen hoffnungslos, unsere Entscheidungen ein für alle Mal getroffen sind und dass man in manchen Fällen weder um Vergebung bitten, noch sie annehmen kann. Wir fallen auf diese Lügen herein, weil uns die bedingungslose Liebe Gottes viel zu schön erscheint, um wahr zu sein. Wir glauben nicht wirklich, dass für Gott alles möglich ist.

Um den Heiligen
Geist bitten
Die Vergebung heilt die Erinnerung, indem sie Frieden vermittelt. Die Erinnerung an die erlittene Kränkung – die Weg des Unheils und des Todes war – wird so zum Weg des Lebens und des Heils. Die Vergebung ist wahrhaft Auferstehung: Übergang vom Tod zum Leben. Es ist der auferstandene Jesus, der uns diesen Übergang ermöglicht – Er, der uns aufgefordert hat, „sieben­undsiebzig Mal zu vergeben“. Wir sollten uns nicht davor fürchten, den Heiligen Geist darum zu bitten, uns alle erlittenen Kränkungen, die noch der Vergebung bedürfen, ins Bewusstsein zu rufen. „Christus ist mit Seinen Wunden auferstanden, und wir bewahren die Narben unserer Geschichte,“ schreibt Simone Pacot. „Aber sie sind nicht mehr Zeichen der Bedrückung, der Verurteilung, sie werden Zeichen der Heilung und des Heils.“

Aus Famille Chrétienne v. 19.7.13

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