Man kann die Zeit, in der wir leben, nicht ohne die Vergangenheit begreifen, die nicht als die Gesamtheit ferner Tatsachen zu verstehen ist, sondern als der Lebenssaft, der die Gegenwart durchströmt. Ohne dieses Bewusstsein verliert die Realität ihre Einheit, die Geschichte ihren logischen Faden, und die Menschheit geht des Sinnes ihrer eigenen Taten sowie der Richtung der eigenen Zukunft verlustig.
Der 25. März 1957 war ein Tag voller Erwartungen, voller Hoffnung, Begeisterung und Bangen, und nur ein aufgrund seiner Tragweite und historischer Konsequenzen außergewöhnliches Ereignis konnte ihn zu einem einzigartigen Tag in der Geschichte machen. Das Gedenken jenes Tages verbindet sich mit den Hoffnungen von heute und den Erwartungen der Völker Europas, die ein Nachdenken über die Gegenwart fordern, um mit neuem Schwung zuversichtlich den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Die Gründerväter und die Verantwortungsträger, die durch die Unterzeichnung der zwei Verträge jene politische, wirtschaftliche, kulturelle, aber vor allem menschliche Wirklichkeit ins Leben gerufen haben, die wir heute Europäische Union nennen, waren sich dessen wohl bewusst. Andererseits ging es, wie der belgische Außenminister Spaak sagte, „gewiss um den materiellen Wohlstand unserer Völker, um die Ausweitung unserer Wirtschaft, um den sozialen Fortschritt, um völlig neue Industrie- und Handelsmöglichkeiten, aber vor allem […] um eine Lebenshaltung nach menschlichem Maß, brüderlich und gerecht“. (…)
Die Gründerväter erinnern uns daran, dass Europa nicht eine Summe von einzuhaltenden Regeln, nicht ein Handbuch von zu befolgenden Protokollen und Verfahrensweisen ist. Es ist ein Leben; eine Art, den Menschen ausgehend von seiner transzendenten und unveräußerlichen Würde zu begreifen und nicht nur als eine Gesamtheit von zu verteidigenden Rechten oder einzufordernden Ansprüchen. Am Ursprung der Idee Europa steht „die Gestalt und die Verantwortlichkeit der menschlichen Person samt dem Ferment einer im Evangelium gegründeten Brüderlichkeit, […] mit ihrem Willen zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit, der von einer tausendjährigen Erfahrung geschärft wurde“ (A. de Gasperi). Rom ist mit seiner Berufung zur Universalität Symbol dieser Erfahrung und wurde deswegen als Ort für die Unterzeichnung der Verträge ausgewählt. Denn hier – wie der niederländische Außenminister Luns ins Gedächtnis rief – „wurden die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fundamente unserer Kultur gelegt“.
Von Anfang an war klar, dass das pulsierende Herz des politischen Projekts Europa nur der Mensch sein konnte. Zugleich bestand offenkundig das Risiko, dass die Verträge toter Buchstabe bleiben könnten. Diese mussten mit lebendigem Geist erfüllt werden. Und das erste Element europäischer Lebenskraft ist die Solidarität. »Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft«, bekräftigte der luxemburgische Premierminister Bech, »wird nur dann leben und erfolgreich sein, wenn sie in ihrem Bestehen dem Geist europäischer Solidarität, der sie geschaffen hat, treu bleibt und wenn der gemeinsame Wille des entstehenden Europas mächtiger ist als die nationalen Willensbestrebungen«. Dieser Geist ist angesichts der zentrifugalen Kräfte wie auch der Versuchung, die Gründungsideale der Union auf produktive, wirtschaftliche und finanzielle Erfordernisse zu reduzieren, heute höchst notwendig.
Aus d. Ansprache an die Staats- und Regierungschefs der EU zum 60. Jahrestag des Vertrags von Rom am 24.3.17