VISION 20004/2017
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Die Kirche hätte eine große Chance

Artikel drucken Über die Wichtigkeit der Seelsorge für Menschen, die in eine Abtreibung verstrickt waren (Von Alexandra Maria Linder)

Beim evangelischen Kirchentag in Berlin im Mai gab es Ärger: Frauen, die am Stand der ALfA (Aktion Lebensrecht für Alle) vorbeigingen, stießen sich an den Embryomodellen, die dort als Anschauungsmaterial auslagen. Eine merkwürdige Reaktion, denn normalerweise sind Menschen für das Wunder des Lebens offen und immer wieder überrascht, wie weit entwickelt ein zehn Wochen altes Kind bereits ist.

Warum also beschweren sie sich? Die Erklärung ist ebenso einfach wie erschütternd: Wenn man allein in Deutschland die etwa sechs bis acht Millionen Kinder berücksichtigt, die in den letzten 30 Jahren durch Abtreibung gestorben sind, und neben den Müttern und Vätern weitere Angehörige, Freunde, Kollegen sowie das beteiligte medizinische und sonstige Personal miteinbezieht, stellt man fest: Mindestens jeder Zweite in Deutschland hatte mindestens einmal sehr direkt damit zu tun.
Trotz der immer wachgehaltenen Debatte haben vor allem Frauen, die abgetrieben haben, diese Erfahrung ihres Lebens verdrängt. Und plötzlich stehen sie in einer Messehalle und sehen, „was“ sie haben wegmachen lassen: Kein „Etwas“, keinen Zellhaufen, Gebärmutterinhalt, Fruchtsack; sondern einen „Jemand“, ein Kind, ihr Kind.
Was bedeutet das? Zum einen, dass trotz angeblicher Aufklärung in der Schule und später bei der in Deutschland vorgeschriebenen Schwangerschaftskonfliktberatung, trotz aller Informationsmöglichkeiten sowohl das Wissen um den Abtreibungsvorgang als auch um das Leben danach nicht sorgfältig aufgearbeitet bzw. vermittelt wird. Zum anderen, dass Frauen nicht dumm sind und ihre Gefühle von Schuld und Trauer sehr genau der Abtreibung zuordnen können. Das geben sogar Abtreibungsorganisationen unumwunden zu. Erstaunlich, denn um einen Zellhaufen wie einen Blinddarm trauert man nicht – doch den konsequenten Schritt, das Mensch- und Kindsein des abgetriebenen „Etwas“ zuzugeben, gehen sie nicht.
Aus diesem Grund sind es vor allem Lebensrechtsorganisationen, die mit Aufklärungskampagnen in der Öffentlichkeit, Vorträgen, Diskussionen und Schulbesuchen diese Lücken möglichst präventiv schließen – damit Frauen überhaupt nicht erst in diese Lage kommen.
Doch wer hilft Frauen nach einer Abtreibung? Außer den Lebensrechtsorganisationen und Selbsthilfegruppen nur wenige. Viele bleiben in der Verdrängung, mit der Folge, dass mögliche PAS-Erscheinungen (Post Abortion Syndrome), vorrangig Depressionen, daneben Unfruchtbarkeit, Roboter-Feeling, Konzentrationsstörungen und vieles mehr, nicht erfolgreich behandelt oder geheilt werden können, weil sie nicht der Abtreibung zugeordnet werden. Man lässt die Frauen weiter allein und kann ihnen nicht wirklich helfen.
Als wir die von der amerikanischen Bischofskonferenz herausgegebene Broschüre „Seel­sorge nach Abtreibung“ übersetzten und dem Hauptseelsorger einer deutschen Diözese anboten, meinte er, das sei „etwas für psychiatrische Kliniken“, doch ansonsten gebe es keinen Bedarf. Ob diese absolute Fehleinschätzung aus Feigheit oder Gleichgültigkeit getroffen wurde, mag dahingestellt bleiben.
Tatsache ist, dass genau diese Situation eine Riesenchance für die Kirche wäre, das Thema Abtreibung und ihre Folgen für die betroffenen Erwachsenen (denn auch Männer leiden unter PAS!) nicht nur einer großen Öffentlichkeit wieder zur Diskussion zu geben, sondern auch zu zeigen, was Kirche vermag.
Papst Johannes Paul II. spricht in Evangelium Vitae (99) die Frauen direkt an: „Einen besonderen Gedanken möchte ich euch, den Frauen, vorbehalten, die sich für eine Abtreibung entschieden haben. Die Kirche weiß, wie viele Bedingtheiten auf eure Entscheidung Einfluß genommen haben können, und sie bezweifelt nicht, daß es sich in vielen Fällen um eine leidvolle, vielleicht dramatische Entscheidung gehandelt hat. Die Wunde in eurem Herzen ist wahrscheinlich noch nicht vernarbt.
Was geschehen ist, war und bleibt in der Tat zutiefst unrecht. Laßt euch jedoch nicht von Mutlosigkeit ergreifen und gebt die Hoffnung nicht auf. Sucht vielmehr das Geschehene zu verstehen und interpretiert es in seiner Wahrheit. Falls ihr es noch nicht getan habt, öffnet euch voll Demut und Vertrauen der Reue: der Vater allen Erbarmens wartet auf euch, um euch im Sakrament der Versöhnung seine Vergebung und seinen Frieden anzubieten. Euer Kind aber könnt ihr diesem Vater und seiner Barmherzigkeit mit Hoffnung anvertrauen. Mit Hilfe des Rates und der Nähe befreundeter und zuständiger Menschen werdet ihr mit eurem erlittenen Zeugnis unter den beredtesten Verfechterinnen des Rechtes aller auf Leben sein können. Durch euren Einsatz für das Leben, der eventuell von der Geburt neuer Geschöpfe gekrönt und mit der Aufnahme und Aufmerksamkeit gegenüber dem ausgeübt wird, der der Nähe am meisten bedarf, werdet ihr eine neue Betrachtungsweise des menschlichen Lebens schaffen.“
Genau diese Erfahrung machen wir in unserer täglichen Arbeit: Nicht selten sind es Frauen nach Abtreibung, die diese häufig traumatische Erfahrung verarbeitet haben und nun selbst aktiv sind, um anderen Frauen und Kindern dieses Leid zu ersparen.
Was wäre das für eine Pressekonferenz! Die Deutsche Bischofskonferenz spricht alle von Abtreibung belasteten Menschen direkt an, bietet Seelsorge, Gespräche, Versöhnung, Beichte – die ganze Palette der Kirche, die ganz wunderbar dabei helfen könnte, tiefe Wunden zu heilen und die Thematik wieder breiter in die Gesellschaft hineinzubringen. Jeder Priester, jede Gemeinde sollte das im eigenen Bereich tun. Es gibt keine Gemeinde, in der keine Frauen und Familien von Abtreibung betroffen sind. Doch wie macht man das? Niemand spricht gerne über eine Abtreibung, schon gar nicht in Verbindung mit Kirche, weil die meisten Menschen sofort an Schuld denken.
In der Broschüre „Seelsorge nach Abtreibung“ stehen viele gute Hinweise, wie man in der Gemeinde auf eine Art und Weise darauf aufmerksam machen kann, die Frauen in diesem Konflikt anspricht und ihnen Mut macht, sich vielleicht doch einmal vertraulich an den Priester zu wenden: Die Pfarrei soll (nicht nur in diesem Bereich!) immer als Zentrum der Hoffnung und Heilung dargestellt werden. Eine Predigt zum Thema Abtreibung sollte alle Beteiligten umfassen, sowohl die darunter Leidenden und die verstorbenen Kinder als auch zum Beispiel Menschen, die in diesem Bereich arbeiten (müssen). Der Schwerpunkt sollte immer auf der Liebe, Gnade und Vergebung Gottes liegen, ohne die Schuld und Verantwortung zu leugnen oder zu verdrängen – das tun die Frauen selbst, oft schon seit vielen Jahren.
In Pfarrnachrichten könnte auf eine Hilfestelle hingewiesen werden: „Sie leiden an den Folgen einer Abtreibung? Lassen Sie sich helfen!“ Dazu eine Telefonnummer, die dann allerdings immer erreichbar sein muss – wenn sich eine Frau wirklich überwindet, anzurufen, wäre es fatal, wenn sie nur auf einen Anrufbeantworter träfe. Hilfreich sind auch Berichte oder Briefe von Frauen, die diesen Schritt gegangen sind und Heilung gefunden haben, als Ermutigung für andere. Diese und viele weitere Hinweise und Anregungen finden sich in der Broschüre.
Ein weiterer immens wichtiger Punkt, der zu meinen persönlichen Träumen in der Lebensrechtsarbeit zählt: Auf jedem christlichen (und gerne auch städtischen) Friedhof gibt es einen Gedenkstein oder, noch besser, eine Grabstätte für Kinder, die vor der Geburt verstorben sind. Damit würde man in vieler Hinsicht Gutes tun: Erstens hätten die Angehörigen einen Ort zum Trauern. Zweitens wären abgetriebene Kinder durch ein eigenes Grab (und eine Bestattungspflicht!) vor der Gefahr geschützt, nach ihrer Tötung noch in Forschung, Medizin oder Kosmetik verwertet zu werden. Drittens: Wer ein Grab hat, war ein Mensch und kein Fruchtsack. Und viertens würde die Thematik durch diese Präsenz großflächig wieder viel bewusster werden.
Lassen Sie uns diese Chance gemeinsam nutzen: Für die Frauen, die abgetrieben haben, für alle anderen Menschen, die darunter leiden, und für alle zukünftigen Kinder und Frauen, dass ihnen dieses Schicksal erspart bleibt!

Die Autorin ist freiberuflich als Übersetzerin und Lektorin und seit 25 Jahren ehrenamtlich im Lebensrechtsbereich tätig. Sie ist Autorin der Bücher: Geschäft Abtreibung und Lebensrecht 2011. Derzeit leitet sie als Bundesvorsitzende die ALfA e.V. und den Bundesverband Lebensrecht (BVL).


 

Infos zu ALfA

Die Broschüre Seelsorge nach Abtreibung können Sie bei der ALfA in Augsburg bestellen: info@alfa-ev.de
oder 0821/512031.
Die ALfA bietet eine Fülle von weiteren Materialien für Schul­einsätze, Vorträge etc. sowie Referenten für Fachvorträge, Kampagnen für das Leben (Ich bin Mensch, Patenschaftsaktion) und weiteres.
Die Notrufeinrichtung vitaL – Beratung für Schwangere ist unter der kostenlosen Rufnummer 0800 / 36 999 63 immer erreichbar, auch per Email über www.vita-l.de

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