Kann die Gesundheit nicht wiederhergestellt werden, zeichnen sich ein Leidensweg und Hilflosigkeit ab. Hat dann das Leben den Sinn verloren? Die Antwort lautet heute sehr oft: Ja, dann sollte Schluss gemacht werden. Allerdings zeigen mittlerweile auch wissenschaftliche Untersuchungen, dass Menschen durchaus mit solchen Lebenssituationen zurechtkommen können, wenn…
"Hauptsach g’sund“, hört man als werdende Mutter häufig, wenn es um den erwarteten Nachwuchs geht. Und „G’sund soll er bleib’n“ kommt meist gleich nach „Hoch soll er leben“, wenn das Geburtstagskind besungen wird. Auch ein „gesundes neues Jahr“ reiht sich eng an das „glückliche neue Jahr“, das wir uns zu Silvester gegenseitig wünschen. Bei vielen Menschen hat man da den Eindruck, sie könnten sich gar nicht vorstellen, dass „glücklich“ auch ohne „gesund“ möglich sein könne.
Ich erlebe jedenfalls in meiner psychotherapeutischen Praxis häufig Menschen, die allein die Angst vor einer somatischen Erkrankung psychisch krank macht (selbstverständlich aus unterschiedlichsten Gründen). Dabei ist es, wie viele von uns sicher schon aus persönlicher Erfahrung wissen oder im Umfeld erlebt haben, durchaus möglich, trotz schwerer körperlicher Erkrankung ein erfülltes Leben zu leben!
Unbedingt nötig dazu ist allerdings Akzeptanz, das Annehmen von – jedenfalls derzeit – unveränderlichen Umständen. Im sogenannten „Gelassenheitsgebet“ heißt es dazu: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
„Locked-in“-Patienten, die aufgrund unterschiedlicher Erkrankungen keinerlei Kontrolle über ihre willkürliche Muskulatur haben und somit im eigenen Körper eingesperrt sind, müssen radikale Akzeptanz aufbringen, um sich mit ihrem Zustand abzufinden. Laut Niels Birbaumer, Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen, der seit Jahrzehnten in diesem Bereich forscht, gelingt das unter gewissen Rahmenbedingungen den meisten. Eine Erkenntnis, die Mut macht!
Im Folgenden eine kurze Auseinandersetzung mit seinen Erklärungen und Erkenntnissen aus seinem Buch Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst:
Das Gehirn von Locked-in-Patienten ist abgekoppelt vom übrigen Körper: Nervensignale, die der Patient aussendet, kommen bei den Muskeln nicht mehr an. Ursache sind unterschiedliche Erkrankungen, die langsam fortschreiten, aber auch Schlaganfälle. Dieser Zustand verdammt die Betroffenen zu absoluter Bewegungslosigkeit. Manchen ist es nicht einmal mehr möglich, die Augen aufzumachen. Dafür bleiben die Ohren offen, der Locked-in-Patient hört noch. Er bekommt also auch mit, wenn Ärzte und Verwandte leichtfertig über das Abstellen der lebenserhaltenden Maschinen debattieren.
„Locked in“ ist also für uns Gesunde schlichtweg unvorstellbar schrecklich, eine Art Tod im Diesseits. Wie geht es aber den Menschen, die von diesem Schicksal betroffen sind? Kann deren Leben noch lebenswert sein – als Pflegefall, ewig abhängig von der Hilfe anderer, eine Last für alle, die einen lieben?
Um diese Fragen zu beantworten, hat Niels Birbaumer einen Großteil seiner Forschung diesem Zustand gewidmet und verschiedene Möglichkeiten gefunden, mit den Betroffenen zu kommunizieren. Es sind dafür keinerlei Muskeln, Sprache oder Augenbewegungen nötig. Eine dieser Methoden arbeitet mit dem EEG und den elektrischen Spannungsveränderungen, die im Gehirn gemessen werden.
Bei ganz eingeschlossenen Patienten funktioniert die Kommunikation über die Hirndurchblutung am besten. Mit der Entwicklung dieser Methode gelang es, auch mit Menschen, die über andere Methoden seit Monaten nicht kommuniziert hatten, Kontakt aufzunehmen.
Wie geht es also den Locked-in Patienten? Dass sie Zufriedenheit oder gar Glück empfinden könnten, ist in der Vorstellung gesunder Menschen ja unvorstellbar. Mit speziell entwickelten Methoden, die sowohl bei Gesunden als auch Locked-In Patienten anwendbar sind, wurde dieser Frage nachgegangen. Und siehe da, die Antworten zeigten, dass die Lebensqualität beider Gruppen etwa ähnlich hoch ist. Bei den Gelähmten (mit einer degenerativen Erkrankung) war das Ergebnis abhängig vom Grad der Anpassung an das aktuelle Stadium ihrer Erkrankung.
Mittels Magnetresonanztomographie wurde versucht, die Lebensqualität der Patienten auch naturwissenschaftlich zu erfassen. Gesunde wie Kranke wurden in der Kernspinröhre platziert und man konfrontierte sie mit angenehmen wie unangenehmen Bildern und/oder Geräuschen (für die nur noch hörenden Probanden), die negative wie positive Emotionen auslösten. Dabei stellte sich heraus, dass die Locked-in-Probanden deutlich stärker auf positive Reize und deutlich schwächer auf negative Reize reagierten. Je länger sie schon auf Beatmung angewiesen waren, desto stärker war dies ausgeprägt.
Somit macht diese massiv eingeschränkten Menschen das, was uns glücklich macht, noch glücklicher und das, was uns unglücklich macht, deutlich weniger unglücklich. Was laut Birbaumer „unterm Strich nichts anderes bedeutet, als dass ihre Lebensqualität höher ist als die unsrige“. Voraussetzung für die hohe Lebensqualität ist allerdings, dass die Patienten sich gut aufgehoben fühlen, intakte Beziehungen pflegen, also von „freundlichen, fürsorglichen und empathischen Menschen“ umgeben sind.
Eine Stabilisierung oder sogar Steigerung der Lebensqualität lässt sich auch bei anderen schweren Erkrankungen wie AIDS und Krebs beobachten, sofern die Schmerzen in den Griff zu bekommen sind. „Nicht selten erwächst Menschen erst durch ihre Erkrankung die Kraft zu einschneidenden Veränderungen in ihrem Leben.“ Wichtig ist allerdings, dass die Diagnose akzeptiert ist und man sich an den veränderten Alltag gewöhnt hat.
Birbaumer erklärt, dass „Millionen Menschen, deren Leben zwar aus Sicht eines Gesunden oft nicht mehr lebenswert erscheint, von ihnen selbst als durchaus lebenswert empfunden wird“ und „diese Erkenntnis im Mittelpunkt stehen sollte, wenn über Patientenverfügungen und Sterbehilfe diskutiert wird“.
Martin E.P. Seligman, amerikanischer Professor für Psychologie, Pionier der „positiven Psychologie“, schreibt dazu in seinem Buch Der Glücksfaktor: „Soweit es um Glück und Lebenszufriedenheit geht, brauchen Sie sich hingegen nicht darum zu kümmern, ... gesund zu bleiben (bedeutsam ist die subjektiv empfundene, nicht die objektive Gesundheit).“
Sehr ermutigende Aussichten somit! Auch wenn wir schwerkrank, alt, gebrechlich oder auf eine andere Art und Weise vorübergehend oder auch langfristig einen für uns unangenehmen Zustand erleben, muss das nicht heißen, dass wir unser Leben als nicht mehr lebenswert erachten und nicht mehr zufrieden sein können!
Wichtig ist, wie eingangs schon erwähnt, dass wir diesen Zustand annehmen, also nicht hadern. Sehr hilfreich ist es auch, rechtzeitig in ein gutes soziales Netz zu investieren, das uns in schwierigen Lebensumständen „auffängt“, also inner- und außerfamiliäre Beziehungen zu pflegen.
Martin E.P. Seligman schreibt dazu: „Wenn Sie Ihr Glücksniveau dadurch nachhaltig anheben wollen, dass Sie Ihre Lebensumstände ändern, dann sollten Sie… ein reiches soziales Netzwerk aufbauen…“
Die Autorin ist Psychotherapeutin in Wien.