Als Papst Johannes Paul II. 1999 Birgitta von Schweden, Katharina von Siena (Vision 1/14) und Theresa Benedicta a Cruce (Edith Stein, Vision 4/12) zu Mitpatroninnen Europas erklärte, ging es ihm um eine „Option der Heiligkeit mit weiblichem Antlitz“, um „zum Aufbau Europas einen besonderen Beitrag zu leisten.“
Birgitta wurde im Juni 1303, im „Herbst des Mittelalters“, als Tochter des Birger Persson, Lagman (Landeshauptmann) von Uppland in Südschweden und dessen Frau Ingeborg Bengtsdotter als eines von sieben Kindern geboren. Sie wuchs in einer ritterlichen Gesellschaft auf, in der sie sich später nicht nur als Braut Christi, sondern auch als seine ritterliche Gefährtin im Kampf gegen Ungerechtigkeit, Unsittlichkeit und Unglauben fühlte.
Als Halbwüchsige denkt sie daran, sich ganz Gott im jungfräulichen Stand zu weihen, aber der Vater verheiratet sie aus politischen Gründen 1316 mit dem Sohn Ulf seines Amtskollegen Gudmar. Der Vermählungstag ist für sie kein Freudentag, da sie „mit ganzer Sehnsucht danach verlangt hatte, dem Herrn im jungfräulichen Stand zu dienen“. Sie erzählt später ihrer Tochter Katharina, sie wäre damals lieber gestorben als vermählt worden. In Birgittas ältester Lebensbeschreibung heißt es: „nicht auf Grund begehrlicher Lust, sondern auf Grund väterlichen Willens vermählt.“
Birgitta und Ulf leben länger als ein Jahr wie Bruder und Schwester. Erst danach erfüllen sie ihre „eheliche Pflicht“ und zeugen acht Kinder – mit schlechtem Gewissen, wie aus den Aufzeichnungen der Heiligen hervorgeht. Der Biograph Günther Schiwy betrachtet diese grundsätzliche Spannung, die vom Mittelalter noch bis in die Neuzeit nachklingt. Kein Wunder, dass bis heute, im Zeitalter nach der sexuellen Revolution, Vorwürfe der Lustfeindlichkeit erhoben werden. Schiwy belegt, wie die Ehemoral des Augustinus bestimmend war seit der christlichen Antike. „Die erlaubte Vereinigung mit der Gattin kann nicht ohne das Verlangen des Fleisches geschehen und dieses Verlangen keineswegs ohne Sünde sein.“ (Papst Gregor der Große). Gewissenhafte Eheleute litten damals unter dem Dilemma. Birgitta hat dieses Problem für sich nicht wirklich gelöst.
„Gott feiert die Liturgie Seines Schöpfungsaktes im heiligen Moment der ehelichen Vereinigung.“ Wären diese heutigen Worte Kardinals Caffara (Vision 4/17) damals gesprochen und beherzigt worden, wie anders hätte sich die kirchliche Sicht auf die Sexualität entwickelt!
Ihr Leben als Ehefrau und achtfache Mutter ist ausgefüllt mit den Tätigkeiten einer Gutsherrin am Borensee. Sie sorgt für die herrschaftlichen Liegenschaften, für die Bediensteten und – zusammen mit ihrem Beichtvater Magister Matthias von Linköping, einem Hauskaplan, dem zuständigen Pfarrer aus Eckeby und Hauslehrern – für die religiöse Erziehung ihrer Kinder und Hausgenossen. Einer der Hauslehrer, Nils Hermansson, später heiliggesprochen, ist es, der gemeinsam mit Beichtvater Matthias die Ordensregel Birgittas nach ihren Offenbarungen niederschreibt. Er ge leitet Birgittas Reliquien 1374 in das entstehende Birgittenkloster in Vadstena, weiht das Kloster 1384 ein und wird dort Birgittas Tochter Katharina als erste Oberin einsetzen.
Vorerst ruft der regierende König Magnus II Erikson die Gutsherrin 1335 als Oberhofmeisterin für seine Frau Blanka an den Königshof. Birgitta fühlt sich verpflichtet, dem königlichen Paar und dem Hofstaat ins Gewissen zu reden, was schließlich zum Bruch mit dem Hof führt.
Nach Günther Schiwy sei das Pilger- und Kreuzfahrerwesen des westlichen Christentums überhaupt nur vor dem Hintergrund des Ablasses, des Nachlasses von zeitlichen Sündenstrafen, verständlich. Wir Heutigen sehen in einer Wallfahrt ja eher einen „inneren“ Weg. Leichte Entbehrungen verleihen den zeitlich oft auseinanderliegenden Wegetappen (von Urlaub zu Urlaub) eine Art sportliche Note, Flugzeug und Bahn sorgen für kurze, bequeme Rückwege. Zu Birgittas Zeiten war eine Wallfahrt – ganz im Zeichen der Buße – hin und zurück aber ein recht entbehrungsreiches Lebensereignis über viele Monate mit einer Fülle von kulturellen Begegnungen.
Die erste beschwerliche Wallfahrt beginnt für Birgitta und ihren Gatten Ulf 1338 quer über das skandinavische Gebirge zum Grab des Märtyrerkönigs Olaf. 1341, vor ihrer silbernen Hochzeit, machen sie sich auf nach Santiago de Compostela – ein trendiges Ziel auch heute. Ulf erkrankt auf dem Rückweg, tritt in das Zisterzienserkloster Alvastra am Vättersee ein und stirbt 1344. Birgitta erlebt in einer bilderreichen Offenbarung, dass Gott sie fortan ganz in seinen Dienst nehmen werde. Sie wird zur Visionärin und Prophetin, zum „Sprachrohr Gottes“ für die Welt: „Du wirst meine Braut und mein Kanal sein, Du wirst Geistliches und geheimes Himmlisches hören und sehen und mein Geist wird bei Dir bleiben bis zu Deinem Tode. Ich bin’s, der von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist.“
Birgitta wird ihre zahlreichen Offenbarungen in ihrer Sprache zu Papier bringen, Magister Matthias, Hauslehrer Nils Hermansson, Priester und Bischöfe werden den Text als Arrangeure, Redakteure, Ausleger, Zensoren und Übersetzer bearbeiten.
Birgittas Aktionskreis erweitert sich zusehends. Brigitta drängt Papst Benedikt XII. – der vierte Papst, der nicht mehr in Rom, sondern in Avignon residiert – zur Rückkehr nach Rom und fordert ihn zur Vermittlung im 100-jährigen Krieg zwischen England und Frankreich auf. Sie wird Zeugin des letzten Kampfes zwischen weltlicher und geistlicher Macht, kommt zur Überzeugung: Die Zeit der alten Orden ist abgelaufen. Seit dem Tod ihres Mannes bedrängt sie die Frage: Witwe bleiben oder Ordensfrau werden?
Christus überrascht sie mit einer neuen Lebensaufgabe: der Gründung eines Ordens. „Seine Ordnung und Satzungen werde ich mit eigenem Munde auf das vollständigste erklären.“ Für kirchliche Autoritäten mag es unerhört gewesen sein, dass erstmals von und für Frauen ein Orden entstehen sollte, dem noch dazu Christus selbst die Ordensregel in allen Einzelheiten diktiert haben soll. Birgitta begibt sich 1349 nach Rom, um die Regel vom Papst bestätigen zu lassen. Die Pilgergruppe findet in der von Pest zerstörten und verkommenen Stadt eine einfache Herberge – heute Casa Santa Brigida. Große Freude bereitet ihr die Ankunft ihrer Tochter Katharina. Danach macht sie Wallfahrten zu Wirkungsstätten der Heiligen nach Assisi und Süditalien und sättigt ihren Bedarf an Reliquien.
Ihr wird offenbart, dass sie viel Geduld mit den Päpsten Clemens VI., Innozenz VI., Urban V. und Gregor XI., mit den chaotischen Vorbereitungen zum Heiligen Jahr 1350, mit den politischen Wirren zwischen Frankreich, Kirchenstaat und Königreich Neapel haben müsse. Birgitta hat Mahnungen und Weisungen für alle, auch herbe Ratschläge für den Klerus in Zeiten von Boccacios erotischer Phantasien.
Zwar treffen im Oktober 1368 Papst Urban V. und Kaiser Karl IV. in Rom zusammen – erstmals seit 150 Jahren wieder ein Papst in Rom – aber erst vier Jahre nach Birgittas Tod kehren die Päpste nach Rom zurück, eine Enttäuschung für Birgitta.
1372 bricht sie aufgrund einer Offenbarung ins Heilige Land auf. In Jerusalem erlebt sie Visionen des Leidens Christi, in Bethlehem wird sie durch Maria von Mutter zu Mutter in detailreiche Geheimnisse der jungfräulichen Geburt Jesu und in die leibliche Aufnahme in den Himmel eingeweiht. Wieder in Rom richtet Birgitta einen letzten Brief an Papst Gregor XI. mit der Aufforderung zur Rückkehr aus Avignon. Im Laufe des Jahres wird sie krank, von Höllenvisionen geplagt, aber von Maria in hellen Visionen getröstet. Birgitta stirbt am 23. Juli 1373 im Kreis ihrer Lieben. Im Sarg kehrt sie in ihr noch unfertiges Kloster Vadstena heim. Sie wurde 1391 durch Papst Bonifaz IX. heiliggesprochen.
Birgittas unbeirrtes Hören auf die Weisung des lebendigen Gottes inmitten einer chaotischen Welt und die geistige Hinterlassenschaft ihrer Schriften machen sie für uns zur großen Visionärin Europas, trotz privater Widersprüche zur Prophetin, die den „Großkopferten“ dieser Welt den Auftrag ihres Gewissens unerschrocken verkündet: Gerechtigkeit in Wirtschaft, Politik, Kultur und Religion; Verantwortung der politischen und religiösen Autoritäten; gleichberechtigter Beitrag beider Geschlechter.
Die Birgittenorden gingen nach der Reformation ein, aber die selige Maria Elisabeth Hesselblad (1870-1957) ließ sich 1920 in Rom im Haus der schwedischen Heiligen nieder und gründete den Erlöserorden von der heiligen Birgitta, der heute in Europa, Asien, Nordamerika, Mittelamerika und auf Kuba mit ökumenischem Engagement und missionarischem Einsatz wirkt.