VISION 20005/2017
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Das Lächeln der Urgroßmutter

Artikel drucken Familie – der unersetzbare Klebstoff, der die Gesellschaft zusammenhält (Jonathan van Maren)

In den Wochen seit der Geburt meiner Tochter Charlotte habe ich mehrmals versucht einen Artikel über ihre Ankunft zu schreiben. Über den Moment zu schreiben, in dem wir ihre Existenz entdeckten, das war einfach, aber als unsere wunderschöne Tochter dann offiziell ankam, waren meine Gedanken blockiert.

Wie sollte ich auch meine Gefühle beschreiben, als der Arzt erstmals meiner Frau das kleine Mädchen in die Arme legte, und dann den von Ehrfurcht erfüllten Blick von Charmaine? Oder als ich beobachtete, wie meine Eltern voll Freude ihr zweites Enkelkind zu sehen bekamen, ihre erste Enkelin? Oder als ich leise mit Charlotte plauderte, wenn wir kurze Zeit allein im Spitalzimmer waren und sie zu weinen aufhörte, weil sie meine Stimme erkannte?
All das ist in vieler Hinsicht ganz normal – und ich bin sicher, Millionen von Vätern und Müttern können ähnliche Erinnerungen berichten. So einem kleinen Fremdling, der schon uns gehört, zu begegnen, einer kleinen Person, die du noch gar nicht kennst, aber bereits liebst, das ist einfach wunderbar. Und besorgniserregend. Dennoch aber wunderbar.
Immer wieder ertappte ich mich bei dem Gedanken, in welche Welt unsere kleine Tochter hineinwachsen wird. Angesichts der Tatsache, dass meine Frau und ich in der Pro-Life-Bewegung tätig sind und mein erstes Buch The Culture War eine detaillierte Bestandsaufnahme unserer gesellschaftlichen Situation enthält und den besorgniserregenden Weg beschreibt, auf dem wir uns befinden, weiß ich ziemlich genau, wie es um uns steht. Aber wie wird es sein, wenn Charlotte mein Alter erreicht hat? Die Dinge können sich so schnell verändern. So wurde etwa ich im Staat Washington im letzten Jahr der Präsidentschaft Ronald Reagans geboren. Jetzt haben wir den republikanischen Präsidenten Donald J. Trump. Meiner Ansicht nach konnte das niemand vorhersehen.
Aber nichts könnte die Veränderungen während einer Lebenszeit so gut illustrieren als jener schöne, sonnige Abend letzte Woche, als unsere kleine Tochter die Bekanntschaft meiner drei lebenden Großeltern machte. Sie kamen zu Besuch aus British Colombia. Meine Großmutter mütterlicherseits, Oma den Bok, ist über 80. Meine Großeltern väterlicherseits, Opa und Oma Van Maren sind über 90. Für sie ist ein Großteil des 20. Jahrhunderts keineswegs Geschichte – sondern Erinnerung. Die Veränderungen, die sie erlebten, lassen den derzeitigen Umbruch klein erscheinen.
Die Konversation begann, als Charlotte quietschte und mein Vater ihr den Schnuller in den Mund steckte. „Kinder werden heute schrecklich verwöhnt,“ scherzte er. Opa lächelte. „Wir hatten nicht einmal Wasser im Haus bis ich fünf war,“ erklärte er. „Damals im Jahr 1926. Und 1929 fror der Fluss zu und mein Vater konnte ihn zu Fuß überqueren…“ Und meine Großmutter unterbrach von der anderen Seite des Raums. „Ja, das war im März 29! Mein Vater hat immer von diesem Winter erzählt, als alles zufror.“ Dann schwieg sie und nickte. „Was sind deine Erinnerungen an den Krieg?“
Natürlich sprach sie vom 2. Weltkrieg. Alle meine Großeltern erinnern sich lebhaft an die Nazi-Invasion in die Niederlande. Oma den Bok erinnert sich, eines Mai-Morgens 1940, es war der 14. aufgewacht zu sein und in der Ferne Rotterdam in Flammen zu sehen, am Vortag war sie dort noch mit ihrer Mutter einkaufen gewesen… Obwohl die Ereignisse vor 77 Jahren stattgefunden hatten, hat sie die Bilder vor Augen, als wäre es gestern…
Es ist so wichtig, dass wir eine Beziehung zu unserer Geschichte aufbauen. Denn sie ist uns näher, als wir meinen. Ein großer Teil unserer Generation scheint jedoch der Ansicht zu sein, dass wir heute aufgeklärt seien und die Fehler unserer Vorfahren nicht wiederholen könnten. Gleichzeitig aber lehnen wir es ab, von ihrer Weisheit zu lernen. Die tragischen und blutigen Ereignisse der Vergangenheit haben jedoch unsere jetzige Situation herbeigeführt, und sie fanden vor gar nicht so langer Zeit statt. Der letzte Veteran aus dem 1. Weltkrieg starb 2012, und ich habe ihn am ersten Gedächtnistag erlebt, zu dem mich meine Eltern mitnahmen…
Für mich war es ein schöner Moment, meine Tochter mit ihren Urgroßeltern zu erleben, als diese ihre Erinnerungen ausgruben, die sie nur mehr als Geschichte kennen wird. Und dann lehnte sich Oma Van Maren über ihr neuestes Urenkelkind und lächelte sie an mit einem Lächeln, bei dem sie fast die Augen schloss und das vor Liebe nur so strahlte. Es ist dieses Lächeln, das in unserer Familie alle kennen, ein Lächeln, das Oma ihren 11 Kindern, ihren 58 Enkeln und jetzt ihren mehr als 100 Urenkeln geschenkt hat. Jedes Neugeborene ist kostbar, und Oma liebt jedes einzelne von ihnen.
In diesem Lächeln der 91-jährigen Frau für dieses nicht einmal drei Wochen alte Baby liegt etwas von dem, was die wesentliche Natur der Familie und der Zivilisation zum Ausdruck bringt. Die so verachtete, zerfetzte und umdefinierte Familie in unserer Kultur, die sich von der christlichen Weisheit unserer Vorfahren losgesagt hat, diese Familie ist der Grundstein unserer Gesellschaft. Eine Liebe, die tief und mächtig genug ist, eine Unzahl von Kindern und Enkeln zu umfassen, eine Liebe, die den anderen Jahrzehnte hindurch an die erste Stelle gestellt hat und die aus dem Nährboden einer tiefen Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit hervor sprießt. Diese Liebe ist der Klebstoff, der eine Gesellschaft zusammenhält und Gesellschaften erblühen lässt.
Ungezählten Tausenden hier im Westen sind diese Wurzeln vorenthalten worden, weil die Institution Familie als repressiv abgelehnt worden ist. Der Egoismus wurde freigesetzt und auch ein radikaler Individualismus, der beide Seiten des politischen Spektrums verwüstet. Er hat die Verbindung zur Vergangenheit zerstört und die Tradition als unnützen Aberglauben zur Seite geschoben. Jetzt, da Spaltung und Aufruhr die Schlagzeilen beherrschten, fackeln progressive Experten herum und fragen sich, woher dieser neue, hässliche Tribalismus kommt. Und sie begreifen nicht, dass etwas die Familie, die sie zerstört haben, ersetzen muss.
Jene unter uns, die in eine Mehrgenerationen-Familie mit engen Beziehungen hineingeboren wurden, sind weniger anfällig für die hässlichen wiederentdeckten Ideologien, weil sie bereits einen Clan haben, einen Clan, der aus Eltern, Geschwistern, Cousins, Onkeln und Tanten besteht. Und einige von uns haben sogar Großeltern, die uns im persönlichen Gespräch erzählen können, was tatsächlich geschehen ist in den verrückten Zeiten, als Menschen beschlossen, sich unter einer Ideologie zusammenzuschließen…
Es ist an der Zeit, dass sich unsere Gesellschaft bewusst wird, dass etwas, was sie weggeworfen hatte, wieder gefördert werden muss. Familie kann verleumdet und sinnvolle Traditionen weggeworfen werden, aber dieses tief sitzende Bedürfnis des Menschen, sich irgendwo zugehörig zu fühlen, wird immer gegen die „Fortschritte“ rebellieren. Denn Tradition ist, wie G.K. Chesterton es einmal ausdrückte, so stark, „dass spätere Generationen von etwas träumen werden, was sie nie gesehen hatten.“
Meine kleine Tochter wurde in eine Familie mit einer großen Tradition von Liebe hineingeboren, über Generationen hinweg von Männern und Frauen gepflegt, die bereit waren, Opfer für ihre Kinder zu bringen, die ihre Familie an erste Stelle gestellt haben. Ich bete, dass ich diesem Vorbild gerecht werden möge – und dass unsere Gesellschaft sich eines Tages auf dieses Erbe, das sie verworfen hat, besinnen wird.

Auszug aus seinem Beitrag in Life Site News v. 24. 8.17

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