VISION 20001/2018
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Zurückführen in die Realität

Artikel drucken Möglichkeiten und Grenzen der Psychotherapie im Umgang mit der Wahrheit

Leere Beichtstühle und lange Wartelisten bei den Psychotherapeuten: Gelingt es diesen besser, die Menschen zu heilen und sie mit der Wahrheit in ihrem Leben zu konfrontieren? Können sie das überhaupt? Welchen Bezug hat die Psychotherapie zur Wahrheit? Im Folgenden Antworten dazu.

Ist die Psychotherapie in irgendeiner Form mit dem Thema Wahrheit konfrontiert?
Univ. Doz. Raphael Bonelli: Die Psychotherapie macht einen großen Bogen um das Thema. Viele sagen: Es geht nicht um Wahrheit, sondern um subjektive Empfindung. Man müsse gar nicht prüfen, ob das, was Klienten sagen, wahr ist oder nicht. Es gehe nur um die subjektive Wahrnehmung. Meiner Meinung nach, ist das zu wenig. Denn in Wirklichkeit beschäftigt die Menschen in der Psychotherapie immer das, was wahr ist, weil man sonst die Füße nicht auf den Boden bekommt. Es ist einfach relevant zu wissen, ob man wirklich schlecht behandelt wird oder ob es nicht in Wahrheit so ist, dass man auch andere schlecht behandelt. Aber es gibt oft eine verschobene Sicht: dass man sich selbst belügt oder betrügt. Und wo das geschieht, gelingt einem das Leben eben nicht. Deswegen ist die Wahrheitsfrage in Wirklichkeit in der Psychotherapie doch immer präsent.

Entsteht dadurch Heilung, dass man sich der Realität, den wahren Gegebenheiten stellt und sich ihnen entsprechend verhält?
Bonelli: Genau: Viele Psychotherapien haben zum Ziel, Fremd- und Selbstwahrnehmung in Einklang zu bringen – was viel mit Realität zu tun hat. Ein Ideal der Psychotherapie, wie ich sie sehe, hat Josef Pieper einmal formuliert: Es gehe darum, sich selbst so zu sehen, wie es der Wirklichkeit entspricht. Dadurch ist man nämlich nicht mehr kränkbar. Denn man weiß: Entweder hat der, der einen kritisiert, recht mit dem, was er sagt – oder eben nicht. Dann gibt es eigentlich keinen Grund, verletzt oder beleidigt zu sein. Man kann eben prüfen, ob die Aussage wahr ist. Der Satz: Die Wahrheit macht frei, kann man als Psychotherapeut durchaus unterschreiben.

Kannst Du das an einem Beispiel illustrieren?
Bonelli: Ich erinnere mich gut an eine Patientin, die gekommen ist, weil sie sich nicht konzentrieren konnte. Niemand wisse wieso. In der nächsten Stunde erzählt sie, ihre Schwester habe ihr einen furchtbar beleidigenden Brief geschrieben. Sie werde mit ihr brechen. Ich habe ihr vorgeschlagen, diesen Brief herzunehmen. Wir könnten ihn psychotherapeutisch nutzen. Auf fünf Seiten ausgebreitet stand da, mein Gegenüber sei eine fürchterliche Lügnerin. Alles, was sie sage, sei falsch – unerträglich. Das sei doch gemein, meinte die Patienten. „Total,“ war meine Antwort. „Aber versuchen wir einmal herauszufinden, ob in diesen fünf Seiten nicht irgendwo ein Körnchen Wahrheit zu finden ist.“ Fünf Stunden lang haben wir an dem Brief gearbeitet. Ergebnis: Alles war eigentlich wahr. Die Frau war eine notorische Lügnerin und wusste es nicht. Sobald sie das erkannt hatte, ist ihr ein Licht aufgegangen. Als ich dann auf die Konzentrationsstörungen zu­rückkommen wollte, stellt sie fest: Sie waren weg. Denn sie musste nie mehr überlegen, was sie wem erzählt hatte. Ab jetzt war sie auf der sicheren Seite, weil sie die Wahrheit sagte. Das Zurückführen in die Realität ist meistens heilsam.

Noch ein Beispiel?
Bonelli: Ich hatte einen 60-jährigen Patienten, der sich als Opfer schlechter Behandlung durch seine Familie empfunden hatte. Er hatte mit allen gebrochen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass er offensichtlich mit seiner Vergangenheit unversöhnt sei. Das habe er, obwohl er schon bei vielen Psychotherapeuten gewesen sei, noch nie gehört. Dass Versöhnung wichtig sei, habe die moderne Forschung erkannt, erklärte ich ihm, und so haben wir an dieser Versöhnung gearbeitet. Dadurch konnte er seinen Groll abbauen. Er erkannte, dass auch er seiner Familie unrecht getan hatte – worauf es ihm deutlich besser gegangen ist. Da sehe ich einen starken Wahrheitsbezug in der Psychotherapie.
Der größte Wahrheitsbezug in der Psychotherapie besteht aber dort, wo es um die Selbsttranszendenz geht. Glückliche, innerlich freie Menschen unterscheiden sich von unfreien in drei Ebenen: in der inneren Ordnung, der Beziehungsfähigkeit und der Selbsttranszendenz. Letztere ist entweder ein religiöser Glaube oder das Engagement für etwas Höheres. Davon hat schon Viktor Frankl gesprochen. Mittlerweile haben das empirische Untersuchungen bestätigt. Die drei Transzendentalien, die wir kennen, sind das Wahre, das Gute und das Schöne. Und das Wahre ist den Leuten ein Anliegen. Je mehr sie dem Wahren nachjagen, umso mehr können sie über sich selbst hinauswachsen. Kleinigkeiten spielen dann eine geringere Rolle. Man kann eher verzeihen, weil man sein Leben aus einer höheren Perspektive sieht. Meine Überzeugung: Das Wahre tut dem Menschen äußerst gut.

Auch da ein Beispiel?
Bonelli: Ich hatte vor kurzem einen Philosophie-Studenten wegen Perfektionismus in Therapie. Mittlerweile kommt er nur mehr, um herauszufinden, was die Psychotherapie an Wahrem für ihn zu bieten hat. Das zu entdecken, macht ihn glücklich. Es ist eine intellektuelle Freude, eine Wahrheit zu entdecken.

Was kann die Psychotherapie an Wahrheiten anbieten?
Bonelli: Wahrheit anbieten kann sie nicht. Aber sie kann auf dem Weg zur Wahrheit begleiten. Wer die Wahrheit in Händen hält, das ist die Religion. Die Psychotherapie ist nur eine Methode, sie kann wie eine Magd sein, sie kann zur Wahrheit hinführen. Ich führe meine Patienten nie zur Religion, indem ich etwa sage, sie müssten mehr beten. Aber es ist erstaunlich, wie viele Menschen in sich die religiöse Dimension entdecken, wenn sie in psychotherapeutischer Behandlung sind – vorausgesetzt der Therapeut wertet das nicht ab.

Will die Psychotherapie den Weg zur Wahrheit eröffnen?
Bonelli: Sie hat den Anspruch, Brocken, die auf dem Weg liegen, wegzuräumen. Um die Wahrheit zu entdecken, muss man vor allem erkennen wollen. Und da können Hindernisse den Willen lähmen. Etwa die Angst, eine Wahrheit zu entdecken, die eine Änderung im Leben erfordern würde. Also etwa: Ehebruch ist Sünde. Das wollen viele nicht wahrhaben, es würde ihr Bauchgefühl entscheidend stören – und daher lassen sie nicht zu, dass ihr Kopf es überhaupt erkennen kann. Solange das Herz nicht mitspielt, kommt man mit dem Kopf nicht zur rechten Erkenntnis. Dass dies jedoch geschieht, dazu kann die Psychotherapie schon beitragen. Sie kann die Frage wecken: Ist deine Haltung in sich stimmig?

Die Psychotherapie vermag also, dem Menschen zur inneren Stimmigkeit seiner Sichtweisen zu verhelfen…
Bonelli: Ja. Denn jeder Mensch hat ja ein Gewissen. Es ist bei allen Menschen überraschend ähnlich. Niemand will zum Beispiel selbst innerhalb der Ehe betrogen werden. Niemand will belogen, schlecht behandelt werden. Die 10 Gebote kann man zusammenfassen als Beschreibung von Verhalten, vor dem der Mensch bewahrt bleiben will. Dann ist leicht der Schluss zu ziehen: Ich will auch kein Mensch sein, der tut, wovor ich selbst bewahrt sein möchte. Nun haben viele Leute in ihrem Leben genau diese Diskrepanz zwischen dem „Wie möchte ich behandelt werden“ und „Wie behandle ich andere“.  Diese Diskrepanz aufzuzeigen, vermag die Psychotherapie.

Hat die Psychotherapie eine Vorstellung davon, wann ein Mensch psychisch gesund ist?
Bonelli: Die Psycho-Wissenschaften haben viele Versuche unternommen zu definieren, was es heißt, psychisch gesund zu sein. Die WHO spricht von einem „Zustand völligen psychischen Wohlbefindens“. Das ist nicht zielführend. Man kann ja auch psychisch gesund leiden. Also: eine klare Definition von psychisch gesund und psychisch krank kann man nicht geben.

Warum?
Bonelli: Weil es ein weit gespanntes Kontinuum von Zuständen gibt. Es gibt einen großen Katalog von psychischen Erkrankungen. Aber krank im engeren Sinn ist erst der, bei dem Leidensdruck entsteht. Ein ideologisch un­verfängliches Beispiel: Jemand hat keine Lust auf sexuelle Betätigung. An sich ist das kein Problem, obwohl es eine Diagnose dafür gibt. Diese gilt allerdings nur dann, wenn er unter dem Zustand leidet. Also wenn er z.B. verheiratet ist und findet, dass dies eigentlich zur Ehe gehöre.

Es steht also immer das subjektive Empfinden im Zentrum…
Bonelli: Am besten illustriere ich das an einem Beispiel: Eine Familie kam zu mir, weil die Mutter unter äußerst tragischen Umständen ums Leben gekommen war. Wie es ihnen gehe, wollte ich wissen. Sie seien erschüttert, beteten viel, hieß es. Was ich für sie tun könne, war meine nächste Frage. Sie wussten es nicht recht. Aber man hatte ihnen gesagt, sie bedürften einer Therapie. Ohne eine solche würde sich das Geschehen traumatisch im Unterbewusstsein festsetzen. In ein paar Jahren würde das zu schweren Problemen führen. „Sind Sie traurig?“, war meine Frage. „Ja.“ „Haben Sie Alpträume oder sonstige besorgniserregende Erscheinungen?“ „Nein.“ Dann war eben mein Rat: Nach Hause gehen und weiterbeten. Da bedurfte es keiner Therapie. Trauer ist ein normales Leiden, mit dem die Leute offenbar zurechtgekommen sind.

Oft hört man, die Beichte werde heute durch Psychotherapie ersetzt. Was ist dazu zu sagen?
Bonelli: Diese Sichtweise gab es, weil manche Therapeuten früher exkulpiert haben und den Leuten den Eindruck vermittelten, sie seien Opfer der Umstände gewesen, vor allem die Eltern seien Schuld an ihrer Misere, ihrem leidvollen Fehlverhalten. Man hat dieses dann so lange relativiert, bis die eigene Schuld wegnivelliert war. In den achtziger und neunziger Jahren ist das häufig passiert. Damals konnte man zu der Ansicht kommen: Du hast nichts mehr zu beichten, weil dein Verhalten erklärbar ist, die Umstände so schlimm waren, Vater und Mutter so gemein. Du musst eben die Schuldgefühle loswerden. In der modernen Psychotherapie sind wir davon schon lange weg. Gute Psychotherapeuten wissen, wo ihre Grenze ist. Sie können Schuld nicht vergeben. Man kann Schuld erarbeiten, ins Bewusstsein heben – auch wenn der Therapeut es nicht so bezeichnen würde.

Zurück zu den Schuldgefühlen. Ist es damit getan, wenn man sie loswird?
Bonelli: Man muss zwischen Schuld und Schuldgefühlen unterscheiden. Heute versucht man, sie nicht wegzuschaffen, sondern man prüft sie. Sind sie wahr oder falsch? Sind sie die Folge von Schuld oder liegt keine Schuld vor? Liegt keine Schuld vor, sind die Schuldgefühle pathologisch. Dann sollte man therapieren. Treten Schuldgefühle auf, wo tat­sächlich Schuld gegeben ist, dann sind diese Gefühle normal. Man kann nur hoffen, dass jemand der abgetrieben hat, auch Schuldgefühle hat. Sie ermöglichen, dass man sich dieser Schuld stellt – um von ihr befreit zu werden.  

Damit sind wir wieder bei der Wahrheit. Schuldig wird man, wenn man gegen die Wahrheit gehandelt hat. Dann meldet sich das Gewissen, von dem Du gesagt hast, es reagiere bei vielen Menschen ziemlich gleich. Ist das empirisch fassbar, dass dieser Sinn für die Wahrheit im Menschen verankert ist?
Bonelli: Wie gesagt, besteht der erste Ansatz darin, dass der Mensch auf bestimmte Weise behandelt werden will. Er will nicht belogen, betrogen, bestohlen, vergewaltigt werden… Das ist so evident, dass man es nicht erklären muss. Und dann folgt als nächster Schritt die Goldene Regel: Was du selbst nicht willst, füge auch keinem anderen zu. Diesen Schritt vollzieht zwar nicht jeder in der Praxis, aber fast alle können ihn in der Überlegung nachvollziehen. Denn keiner will einer sein, der lügt, betrügt, massakriert… Auf diese Weise kommt man auch in der Psychotherapie auf die Wahrheit der 10 Gebote. Sie sind meiner Beobachtung nach in den Herzen der Menschen verankert.

Dr. Raphael Bonelli ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut in Wien. Mit ihm sprach Christof Gaspari.

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