Der Junge Israel aus der Familie Zoller kam 1881 in Brody in Galizien (im damals zu Österreich gehörenden Südosten Polens) als jüngstes von fünf Kindern zur Welt. Die Familie war jüdischen Glaubens und lebte in einem gewissen Wohlstand, denn der Vater besaß eine Seidenweberei im damals russischen Lodz. 1888 beschloss der Zar, alle Unternehmen zu verstaatlichen, deren Eigentümer Ausländer waren; Zollers Fabrik wurde ohne Entschädigung enteignet. Der Lebensstandard der Familie sank so beträchtlich, dass die älteren Söhne in der Ferne Arbeit suchen mussten.
1904 verließ Israel seine Familie, die er nie wiedersehen sollte. Seine Mutter, die sich gewünscht hatte, er möge Rabbiner werden, war kurz zuvor gestorben. Er gab Unterrichtsstunden, um die Seinen finanziell zu unterstützen, und studierte daneben Philosophie an der Universität Wien, später in Florenz, wo er die Doktorwürde erlangte; parallel dazu ließ er sich zum Rabbiner ausbilden. 1913 wurde er zum Vizerabbiner der damals österreichischen Hafenstadt Triest ernannt und heiratete Adele Litwak, ein jüdisches Mädchen aus Galizien; aus dieser Verbindung ging eine Tochter, Dora, hervor.
1917 verlor er zu seinem tiefen Schmerz seine Frau. In dieser Zeit machte er eine mystische Erfahrung: Eines Nachmittags „rief ich plötzlich und ohne zu wissen weshalb, wie in Ekstase, den Namen Jesu an ... Ich sah Ihn wie auf einem großen Gemälde ... betrachtete Ihn lange, ohne jede Unruhe, ich fühlte vielmehr eine völlige geistige Gelassenheit ... Ich sagte mir: War Jesus etwa nicht ein Sohn meines Volkes?“ Das war ein erster diskreter Ruf Christi.
Zoller heiratete 1920 wieder, diesmal Emma Majonica, die ihm eine zweite Tochter, Miriam, schenkte. Von 1918 bis 1938 unterrichtete er von Triest aus Hebräisch und alte semitische Sprachen an der Universität von Padua. Überraschenderweise zog er dabei das Neue Testament ebenso häufig zu Rate wie das Alte. So wurde er mit der Person Jesu Christi und Seiner Lehre vertraut.
In seiner Eigenschaft als Spezialist für alte Sprachen entdeckte er, dass der Name „Nazareth“ zunächst auf die kleine Stadt angewandt wurde, in der Jesus in den ersten 30 Jahren gelebt hatte; doch dieser Name bedeutet auch, dass Jesus von Nazareth der vom Propheten Jesaja angekündigte Nazir (der Geweihte) ist: „Doch wächst hervor ein Reis aus Isais Stumpf, ein Schößling (hebräisch: nazer) bricht aus seinen Wurzeln hervor. Auf ihn lässt sich nieder der Geist des Herrn.“ (Jes 11,1)
Die augenfällige Übereinstimmung zwischen dem Bericht über die Passion Christi im Evangelium und dem vom Propheten Jesaja 800 Jahre zuvor beschriebenen leidenden Knecht ließ in Zoller keinen Zweifel darüber, dass sich die Prophetie in Jesus erfüllt hat. Darüber hinaus brachte ihn die Untersuchung der Aussagen Jesu über seine Gottheit zu dem Schluss: „Christus ist der Messias; der Messias ist Gott; Christus ist also Gott.“ Zoller war zwar vom Verstand her überzeugt, doch er besaß noch nicht den Glauben; diese Gnade wurde ihm erst sieben Jahre später zuteil.
Die Annäherung zwischen Mussolini und Hitlerdeutschland führte Ende der 30-er Jahre zu antisemitischen Kampagnen in Italien. Diskriminierende Gesetze gegen die Juden wurden erlassen; Zoller italianisierte seinen Namen in Zolli. Dennoch wurde ihm die italienische Staatsangehörigkeit aberkannt. Ansonsten blieb er unbehelligt. 1940 bot ihm die israelitische Gemeinde von Rom den vakanten Posten des Großrabbiners der Hauptstadt an und er sagte zu.
Nach dem Sturz Mussolinis und dem vom italienischen König Vittorio Emmanuelle III. unterzeichneten Waffenstillstand mit den Alliierten entsandte Hitler im September 1943 30 deutsche Divisionen, um Nord- und Mittelitalien zu besetzen. Himmler, der oberste Befehlshaber der SS, befahl dem SS-Führer von Rom sämtliche Juden, Männer und Frauen, Kinder und Greise, zu versammeln, um sie nach Deutschland zu deportieren. Dieser nutzte den Deportationsbefehl zu einer Erpressung; er rief die beiden Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Rom zu sich und forderte sie auf, ihm innerhalb von 24 Stunden 50 kg Gold zu übergeben,sonst würden sämtliche Männer der jüdischen Bevölkerung zur Strafe unverzüglich deportiert. Bis zum folgenden Tag konnte die jüdische Gemeinde nur 35 kg Gold zusammenbringen. Manbat den Großrabbiner, in den Vatikan zu gehen, um das Fehlende zu borgen. Dieser trug dem Staatssekretär Pius XII seine Bitte um eine Leihgabe von 15 kg Gold vor, wobei er seine eigene Person als Sicherheit anbot. Der Kardinal unterrichtete den HeiligenVater und bat dann Zolli, vor 13 Uhr wieder zu kommen; inzwischen werde der Vatikan die 15 kg Gold sammeln. Doch bald erfuhr Zolli, dass die verlangte Menge dank der Gaben von Priestern und zahlreichen katholischen Organisationen beriets aufgebracht war.
Das bedeutete jedoch nur einen Aufschub. Bald ließ der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, von Weizsäcker, der insgeheim die Politik der Nazis missbilligte, den Papst wissen, dass Himmler die Deportation aller italienischen Juden angeordnet hätte. Pius XII. befahl dem römischen Klerus die sofortige Öffnung der heiligen Stätten für die Aufnahme der Juden, die sich dorthin wenden würden, um sich zu verstecken. Zolli, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt war, lebte in den folgenden neun Monaten im Untergrund, zuletzt bei christlichen Freunden seiner Tochter Dora.
Am 4. Juni 1944 wurde Rom von den amerikanischen Streitkräften befreit. Bei der Jom-Kippur-Feier vom Oktober 1944 leitete Zolli in der Synagoge von Rom die Gebete der Großen Vergebung: „Plötzlich,“ schrieb er später, „erblickte ich mit meinen geistigen Augen eine große Wiese, und mitten auf dem grünen Rasen stand Jesus in einem weißen Mantel ... Bei diesem Anblick empfand ich einen großen inneren Frieden und hörte im Grunde meines Herzens folgende Worte: ,Du bist zum letzten Mal hier. Von nun an folgst du mir.’ Ich nahm diese Worte in größter Gelassenheit auf, und mein Herz antwortete sogleich: ,So sei es, so muss es sein ...’ Eine Stunde später, nach dem Abendessen, sagte meine Frau zu mir in meinem Zimmer: ,Als du heute vor dem Thoraschrein standest, schien mir, als würde die weiße Gestalt Jesu dir die Hände auflegen, wie zum Segen.’ Ich war verblüfft ... In diesem Moment rief unsere jüngste Tochter Miriam, die sich in ihr Zimmer zurückgezogen und nichts mitbekommen hatte, nach mir und sagte: ,Ihr sprecht gerade von Jesus Christus. Weißt du, Papa, heute Abend habe ich im Traum einen großen, ganz weißen Jesus gesehen.’ Ich wünschte beiden eine gute Nacht und dachte ohne Irritation über das außergewöhnliche Zusammentreffen der Ereignisse nach.“
Einige Tage später trat der Großrabbiner von seinem Amt zurück. Am 13. Februar 1945 spendete Monsignore Traglia Israel Zolli das Sakrament der Taufe, wobei dieser den christlichen Vornamen Eugenio für sich wählte zum Zeichen der Dankbarkeit Papst Pius XII. gegenüber für dessen entscheidendes Handeln zu Gunsten der Juden während des Krieges. Zollis Frau wurde zusammen mit ihrem Mann getauft und fügte ihrem Vornamen den Namen Maria an. Die Tochter Miriam folgte ihren Eltern nach einem Jahr persönlicher Bedenkzeit nach. Zollis Taufe war der Endpunkt einer langen geistigen Entwicklung: „Dieses Ereignis war wie die Ankunft eines heißgeliebten Gastes in meiner Seele. Ich begann lediglich, auf die in den Evangelien klarer und lauter erklingende Stimme Christi zu hören. In meiner Seele offenbarte sich Gott weder durch das Mittel des Sturms noch das des Feuers, sondern durch ein sanftes Murmeln…“
Am Abend seiner Taufe hatte Zolli nicht einmal etwas zu essen; Mgr. Traglia musste ihm 50 Lire schenken. Mit 65 Jahren sah sich Zolli plötzlich mit schweren finanziellen Problemen konfrontiert, mit der Frage, wie er für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen sollte. Bis dahin hatte er von den Honoraren als Rabbiner und als Professor gelebt. Er nahm die neue Situation mit größtem Gleichmut hin: „Ich bitte nur um das Wasser der Taufe, um nichts weiter. Ich bin arm und werde arm leben. Ich habe Vertrauen auf die Vorsehung.“
Die Nachricht von der Taufe des Großrabbiners löste eine Flut von Verleumdungen aus. Man warf ihm u. a. vor, aus purem Eigennutz abtrünnig geworden zu sein. Es fiel ihm leicht, darauf zu antworten: „Die Juden, die heute konvertieren, haben so wie in der Zeit des heiligen Paulus alles zu verlieren, was das materielle Leben anbetrifft, und alles zu gewinnen an Leben in der Gnade.“
Heute halten es bestimmte Katholiken für überflüssig, dass sich ein Jude bekehrt, um Christ zu werden. Die Lehre der Kirchenväter und des II. Vatikanischen Konzils widerspricht dieser Ansicht: „Christus allein ist Mittler und Weg zum Heil, der in seinem Leib, der Kirche, uns gegenwärtig wird; indem er aber selbst mit ausdrücklichen Worten die Notwendigkeit des Glaubens und der Taufe betont hat (vgl. Mk 16,16 ...), hat er zugleich die Notwendigkeit der Kirche, in die die Menschen durch die Taufe … eintreten, bekräftigt. Darum könnten jene Menschen nicht gerettet werden, die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollten.“ (LG 14)
Auf Empfehlung des Heiligen Vaters wurde Eugenio Zolli zum Professor am Päpstlichen Bibelinstitut ernannt. Im Oktober 1946 trat er in den Dritten Orden des heiligen Franziskus ein, dessen Hauptmerkmal die von den Laien in der Welt praktizierte evangelische Armut ist.
Im Jänner 1956 erkrankte er an einer Lungenentzündung. Seine Tochter Miriam harrte bei dieser letzten Krankheit am Krankenlager ihres Vaters aus. Eine Woche vor seinem Tod vertraute Eugenio einer Nonne, die ihn pflegte, an: „Ich werde am ersten Freitag des Monats um 15 Uhr sterben, wie unser Herr Jesus Christus.“ Am Freitag, dem 2. März, empfing er morgens die Heilige Kommunion. Nachdem er mittags ins Koma gefallen war, gab er um drei Uhr nachmittags seine Seele an Gott zurück.
Durch seinen spirituellen Werdegang macht Eugenio Zolli die Kontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Bund deutlich: „Denkt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen aufzuheben, sondern zu erfüllen, hat Jesus gesagt.“ (Mt 5,17) Für Zolli waren die Erfordernisse, die diese Wahrheit nach sich zog, nicht leicht zu erfüllen; am Ende seines Lebens sagte er: „Ihr, die ihr im katholischen Glauben geboren seid, seid euch eures Glücks gar nicht bewusst, dass ihr die Gnade Christi von Kindheit an empfangen habt; doch derjenige, der wie ich nach einer langen, jahrelang geleisteten Arbeit an die Schwelle des Glaubens gelangt, weiß die Größe der Gabe des Glaubens zu schätzen und empfindet alle Freude, die es nur gibt, darüber, Christ zu sein.“