Wir befinden uns in einem Transformationsprozess, der vermutlich weiterreichende Folgen hat als die Elektrifizierung oder Industrialisierung. Denn Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche. Wir haben es mit einem umfassenden Verschwinden von Muße zu tun. Denn dieser Zustand stellt sich noch nicht ein, wenn ich beschließe, heute nichts mehr zu arbeiten. Meine To-Do-Liste ist dann nämlich trotzdem noch voll, es gibt nach wie vor viele Dinge, die ich tun müsste. Zudem habe ich dann immer noch 200 Fernsehkanäle, unendlich viele Websites, die ich ansurfen könnte, die Möglichkeit X anzurufen oder Y noch schnell eine E-Mail zu schreiben. Muße ist dagegen ein Zustand, der sich einstellt, wenn das Tagwerk vollbracht ist. So wie das in klassischen agrarischen Gesellschaften abends der Fall war. Diesen Zustand erreichen wir heute nicht mehr. Wir leben in einer Art Daueraktivierung.
(…) Meine zentrale Diagnose lautet, dass unsere Weltbeziehung gestört ist. Das, was uns als Welt begegnet, ist quasi immer ein Aggressionspunkt. Denn sie ist etwas, das wir wissenschaftlich durchdringen, technisch beherrschen, ökonomisch verfügbar machen oder politisch regulieren – das wir unter Kontrolle bringen wollen.
Muße ist eine Chiffre für die entgegengesetzte Haltung: Ich muss gar nichts. Ich lasse das, was mir begegnet, auf nicht verfügbare Weise mit mir interagieren. Ich weiß noch nicht, was mir diese Landschaft sagen wird, ist eine andere Idee als: Ich fahre jetzt in die Berge, um mich zu erholen. Muße hat etwas mit Nichtmüssen zu tun, aber sich trotzdem in gewisser Weise wach auf die Welt einlassen.
Der Autor ist Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, der Text ein Auszug aus einem längeren Interview von Martin Tschiderer in Die Furche v. 30.5.18