Wer bei wikipedia unter „Religionslandkarte“ sucht, bekommt ein Bild vorgesetzt, das Europa als christlich ausweist: katholisch, protestantisch, orthodox. Eigentlich eine Irreführung. Zwar wurzelt der Kontinent kulturell in der Botschaft Christi, aber die heute prägende Weltanschauung ist die Gottlosigkeit. Ein zunehmend kämpferischer Agnostizismus ist zur Staatsreligion geworden.
Uns Christen fällt es schwer, dies zur Kenntnis zu nehmen. Denn immer noch prägen die Restbestände der christlichen Kultur, die ihre Blüte in Europa erlebt hat, das Denken vieler. Auch viele Moralvorstellungen, die unser Zusammenleben gestalten, haben christliche Wurzeln: dass Eigentum zu respektieren, die Umwelt zu erhalten sei, dass Lügen das Zusammenleben zerstört, dass der Mitmensch zu respektieren und bei Bedarf zu unterstützen sei…
Gott sei Dank gibt es dieses Beharrungsvermögen. Sonst wäre in unseren Ländern längst das Chaos ausgebrochen. Aber die systematische Unterwanderung des christlichen Menschenbildes schreitet voran. Und sie geht auch am Leben der Christen nicht spurlos vorbei. Die in den letzten Monaten offenbar gewordene Krise in der Kirche hängt eng mit der Auseinanderentwicklung von christlichem Leitbild und moderner Lebensform zusammen.
Diese Entwicklung wurde seit Jahrhunderten vorausgedacht. Mit der Aufklärung tritt die Konfrontation deutlich zutage. Der Historiker Jean Daujat beispielsweise schreibt Folgendes über die Enzyklopädie und das in ihr zum Ausdruck kommende Denken: „Die Encyclopédie sollte eine vollständige Übersicht über alles menschliche Wissen, das durch die menschliche Vernunft erworben worden war, bieten. Ihre Initiatoren, Diderot und der große Mathematiker d’Alembert, machten aus ihr eine Waffe gegen das Christentum und alle Religionen, indem sie behaupteten, sie beweise die grenzenlosen Fähigkeiten der menschlichen Vernunft. Die Encyclopédie hatte einen enormen Einfluss auf die Verbreitung eines Rationalismus, der sich jeder Offenbarung und jeder göttlichen Einflussnahme entgegenstellte…“
Naheliegend daher die Forderung, den Menschen statt Gott zum Gesetzgeber zu machen. Emmanuel Joseph Sieyès, einer der Wegbereiter der französischen Revolution, bringt die Umkehrung auf den Punkt: „Die Nation besteht vor allem anderen, sie ist der Ursprung von allem. Ihr Wille ist legal, sie selbst ist das Gesetz… Eine Nation kann auf irgendeine Weise wollen, es genügt, dass sie will, … ihr Wille ist immer das oberste Gesetz.“
Noch als Kardinal hat Joseph Ratzinger in Ohne Wurzeln – Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur die Situation klar beschrieben: „So hat in Europa einerseits das Christentum seine wirksamste Gestaltwerdung erlebt, aber zugleich ist in Europa eine Kultur gewachsen, die den radikalsten Widerspruch nicht nur gegen das Christentum, sondern gegen die religiösen und moralischen Traditionen der Menschheit überhaupt darstellt.“
Dieser Widerspruch findet in modernen Verfassungen seinen Niederschlag. Da gibt es keinen – bestenfalls einen weitgehend missachteten – Bezug auf eine höhere Wertordnung. Österreichs Bundesverfassungsgesetz ist ein Paradebeispiel. Artikel 1 hält fest: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Alles Recht, ohne Einschränkung.
Halt, mag nun der Einwand kommen, heute müsse man sich eben an die Menschenrechte halten. Stimmt. Nur sind auch sie Menschenwerk. Wie flexibel sie gehandhabt werden, erleben wir ja fortgesetzt: Sie waren keine Barriere gegen das millionenfache Umbringen ungeborener Kinder, das Töten von Alten und Leidenden, die Einräumung eines Adoptionsrechts für homosexuelle Paare, die Zerstörung des Begriffs Ehe… UNO-Behörden bemühen sich sogar, Abtreibung als Menschenrecht zu etablieren!
Faktum ist: Unsere westlichen Gesellschaften stehen ohne festen Bezug, ohne zeitlos gültige Ordnung da. Und da wird jede Unmenschlichkeit möglich. Heute wird sanktioniert, was den einflussreichen Lobbys in den Kram passt und was lang genug medienwirksam verkauft wird.
Dementsprechend kennzeichnet Kardinal Ratzinger unsere Situation in seiner Predigt vor der Papstwahl 2003: „Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ,vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen’, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“
Ohne festes Fundament aber werden Christen in einer gottlosen Umgebung nicht bestehen können. Früher oder später erliegen sie den Verführungen, Verlockungen, Argumenten und Irrlehren, die rundherum vorherrschen. Von diesem Irregehen sind selbstverständlich nicht nur die Laien, sondern eben auch Priester und Bischöfe betroffen. Die in letzter Zeit offenkundig gewordenen Missbrauchsskandale in der Kirche in so vielen Ländern (Australien, Deutschland, USA, Chile, Honduras, Irland…) machen das leider nur allzu deutlich.
Ich traue mich fast nicht, es zu sagen, weil es so spießig, ja „fundamentalistisch“ klingt: Was nottut, ist eine bewusste Abgrenzung zum Neuheidentum, eine Abwendung vom falsch verstandenen „Aggiornamento“ und eine kompromisslose Hinwendung zu dem, was die Kirche seit den Anfängen lehrt. Nur so kann die Kirche gestärkt aus der derzeitigen Krise hervorgehen.