VISION 20006/2018
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„Eine Liebe, wie ich sie nie mehr im Leben erfahren habe“

Artikel drucken Begegnung mit einer außergewöhnlichen Frau (Von Christof Gaspari)

Vor kurzem rief ein Bekannter an, Architekt Walter Hildebrand, den ich seit gut 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er möchte mich mit einer interessanten Frau bekannt machen. Sie wohne derzeit bei ihm, werde aber in drei Tagen heim nach Kanada fliegen. Ein Gespräch würde sich sehr lohnen.

Klar, dass ich mir das nicht entgehen lasse. Also breche ich nach Pfaffstätten auf und sitze bald im wunderschönen Wohnzimmer der Hildebrands einer besonders liebenswürdigen Dame etwa meines Alters gegenüber. Wir einigen uns darauf, das Gespräch auf Französisch, eine der beiden Landessprachen Kanadas, zu führen. Sie komme gerade von einem mehrtägigen Aufenthalt in der Slowakei, erzählt mir Madeleine Rivest. Dort habe sie an mehreren Orten des Landes ihr neues Buch If I Had Wings – es ist übrigens zweisprachig: Slowakisch und Englisch – vorgestellt. Worum es darin geht? Um Sex, Liebe, Keuschheit und Freiheit, wie dem Untertitel zu entnehmen ist. Interessant, denke ich und freue mich auf das Gespräch.
Bevor wir aber über diese Themen sprechen, möchte sie mir über ihr Leben erzählen, erklärt Frau Rivest strahlend. Soll mir nur recht sein, Zeugnisse sind immer spannend.
Sie sei die neunte von zehn Schwestern, geboren in einem Nest im Norden von Ontario, beginnt sie die Erzählung. Weil der Vater Alkoholiker war und zweifelhafte Kumpanen mit heim brachte, verlässt die Mutter aus Sorge um ihre Töchter den gemeinsamen Haushalt und zieht in einen kleinen Ort 400 Kilometer entfernt.
„Ich war kein einfaches Kind,“ erklärt mir mein Gegenüber. „Und so bin ich mit 16 von daheim ausgezogen. Ich hatte genug von katholischen Pensionaten, in die meine Eltern mich schicken wollten.“ Sie mietet ein winziges Zimmer und wird in eine öffentliche Schule aufgenommen. Ihr Tagesablauf: Schule von neun bis vier Uhr, dann zwei Stunden Arbeit in einem Feinkostladen und danach bis zehn Uhr abends im Buffet eines Kinos. Ihre Ernährung: „Überwiegend Popcorn.“
Wegen Unterernährung wird sie eines Tages im Unterricht ohnmächtig, worauf einer der Professoren den Kontakt zu einer Hilfsorganisation herstellt, die „Chevaliers de Colomb“. „Sie haben mir das Zimmer gezahlt und die Kosten für mein Essen in einem Restaurant übernommen“ – und ihr später sogar das Studium an der Universität in Ottawa ermöglicht! „Und so wurde ich Lehrerin, was ich mir immer sehr gewünscht hatte.“
Zunächst unterrichtet Made­leine Volksschüler und „war glücklich.“ Als dann in Kanada die Zweisprachigkeit in allen öffentlichen Einrichtungen eingeführt wird, unterrichtet sie zunächst in Sprachkursen für Erwachsene und tritt schließlich in den Dienst der Bundesregierung, wo sie für die Einrichtung und Überwachung solcher Kurse in der Region Quebec zuständig wird.
„In dieser Zeit habe ich zu trinken begonnen. Es begannen zehn schreckliche Jahre. Es waren die sechziger und siebziger Jahre, die Zeit der sexuellen Revolution. In all das bin ich hineingeraten, habe mitgemacht und wurde Alkoholikerin. In dieser Zeit habe ich auch den Glauben und meine Gesundheit verloren und war drauf und dran, auch meine Arbeit zu verlieren,“ erzählt sie mir.
Auf Drängen der Familie unterzieht sie sich einer Entwöhnungskur. Dort wird ihr eines Tages aufgetragen, einen Vortrag über das Thema „Suche nach Gott“ zu halten. Eine Zumutung für die mittlerweile Ungläubige, der sie sich aber fügt. Der Vortrag kommt gut an, nur eine Frau kommt nachher auf sie zu und sagt: „Du glaubst selbst kein Wort von dem, was Du gesagt hast. Nicht wahr?“ Stimmt, muss sie zugeben. „Warum sprichst Du nicht so mit Gott, als ob er existierte und Dich hörte?“, wird sie darauf gefragt.
Das beschäftigt Madeleine in der folgenden Nacht. Und: „Zu guter Letzt beschloss ich, es auszuprobieren.“ Schließlich kämpft sie ja mit ihrer Sucht und will heraus. Und sie spricht Gott an: „Wenn es dich gibt und Du da bist, hilf mir!“
Bewegt und mit Worten, die mich in den folgenden Tagen beschäftigen werden, erzählt sie mir dann, was damals 1978 geschah. „Mir fehlen einfach die Worte. Alles, was ich sagen kann, ist: Ich verspürte eine Gegenwart rund um mich und in mir, in meinem tiefsten Inneren. Alles in mir war hell und klar. Da war ein Licht, ein außergewöhnliches Licht und eine Erfahrung der Liebe, wie ich sie nie, nie wieder in meinem Leben erfahren habe. Kein Mensch kann jemals eine solche Liebe schenken. Es war eine mir persönlich zugewandte Liebe, die Liebe des gegenwärtigen Gottes. Ich wusste: Gott existiert. Und Wunder über Wunder: Gott liebt mich! Ja, mich!
Es war  keine allgemeine Liebe, keine Liebe für die ganze Welt. Nein, Er liebt mich, Madeleine, mit all dem, was ich verpatzt hatte, all dem Bösen, das ich getan hatte. Für mich waren zwei Dinge klar: Gott existiert und Er liebt mich. Aber nicht nur mich, sondern jeden – und zwar auf ganz besondere, persönliche Art. Mir war klar, dass ich dieses Wissen nicht für mich behalten durfte.“
Sie kehrt als neuer Mensch an ihren Arbeitsplatz zurück. Alle rund um sie registrieren die tiefe Verwandlung. Bei einer Reise nach Medjugorje vertieft sich ihr Glaube und sie findet zurück in die Kirche: „Zunächst war ich zu Gott zurückgekehrt, jetzt aber wusste ich, dass die Kirche unser Zuhause ist. All das wird niemand mehr je aus meinem Herzen nehmen können.“
Von da an habe Gott ihr Leben geführt. Zunächst nach China, um im Auftrag der kanadischen Regierung ein Zentrum für Sprachausbildung an einer Universität zu leiten. Dann im Auftrag der Franziskanischen Universität von Steubenville einen Campus im niederösterreichischen Gaming mit aufzubauen, einen Ort der Begegnung zwischen Studenten aus Ost und West nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Nach einem Theologie-Studium folgen viele Jahre eines intensiven Engagements in der Slowakei. „Die slowakischen Stundenten in Gaming hatten mich immer wieder animiert, doch in ihr Land zu kommen und zu helfen. Also bin ich dem Ruf gefolgt.“ Zunächst beschäftigen sie Übersetzungsarbeiten und Sprachunterricht.
Dann wird sie eines Tages gefragt, ob sie nicht bei der Vorbereitung auf Erstkommunion und Firmung mithelfen möchte. Das Thema könne sie sich aussuchen. „Bevor ich mich niedergelegt habe,“ erzählt sie, „sagte ich dem Herrn: ,Du hast mich hierher geführt, jetzt musst Du mich auch wissen lassen, was ich da sagen soll.’ Um drei in der Nacht wache ich auf und wusste: Ich sollte über das Thema Sexualität sprechen. Mein Schutzengel gab mir ein: ,Steh auf und schreib gleich nieder, was Dir jetzt ins Bewusstsein tritt.’ Und tatsächlich: Um fünf Uhr in der Früh hatte ich ein Konzept.“
Und mit diesem Thema wird sie kreuz und quer durch der Slowakei herumgereicht, um Vorträge zu halten. „Auch in Litauen, Polen, ja zwei Wochen sogar in Russland habe ich über Sexualität gesprochen.“
Nach zehn Jahren in der Slowakei kehrt sie nach Kanada zurück. „Eine meiner Schwestern war dement geworden. Es war Zeit heimzukehren…“
Für ein paar Wochen war sie jetzt nach Europa gekommen, um das oben erwähnte Buch – ich bekomme es mit persönlicher Widmung überreicht – in unserem Nachbarland vorzustellen. Es ist die kürzlich erschienene Neuauflage eines erstmals im Jahr 2000 veröffentlichten Werkes. „Die Gesellschaft hat sich seither enorm verändert,“ erklärt sie mir. „Die Technologie ist drauf und dran die Leute zu entmenschlichen. Da muss man ihnen helfen.“
Jetzt wäre es sicher angebracht, ausführlich etwas über den Inhalt des Buches zu sagen. Aber das hebe ich mir für die nächste Ausgabe auf, wenn ich If I Had Wings gelesen habe, um es zu besprechen.  An dieser Stelle aber ein paar Worte von Made­leine Rivest zu ihrem Grundanliegen:
„Den jungen Leuten muss man heute vor allem sagen, wer sie sind. Sie sind Kinder Gottes. Ich rede da nicht um den heißen Brei herum. Ich spreche die Dinge einfach an, auch die Fehler, die ich gemacht habe. Und ich stelle sie vor die Frage, wohin sie unterwegs sind. Und da ist die Antwort: Sie sind auf dem Weg in den Himmel. Und dann ist noch die Frage zu stellen, woher uns denn die Sexualität zukomme. Es ist Gott, der die Sexualität geschaffen hat. Die Bibel sagt es klipp und klar. Gott hat Adam und Eva geschaffen und ihnen aufgetragen, sich zu vermehren. Als Gottes Werk ist die Sexualität schön, ein Geschenk des Herrn. Dass sie oft so miss­braucht wird, liegt an den Menschen.“
Und: „Die Sexualität ist ein kostbares Geschenk Gottes. Da geht es um Liebe, um die Entstehung eines Kindes. Und Liebe hat etwas mit Verantwortung zu tun. Wer liebt, übernimmt Verantwortung für den anderen. Wo diese fehlt, gibt es keine Liebe. Es ist so wichtig, ernsthaft darüber nachzudenken, was die Liebe ist. Für mich ist die Liebe, stets das zu tun, was moralisch, geistig, körperlich und psychologisch gut für eine andere Person ist…“
Wir sprechen noch länger über diesen so wichtigen Themenkreis, bevor ich mich verabschiede. Bei der Heimfahrt kehren meine Gedanken zurück zu unserer Begegnung. Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist? Die Einsicht: In unseren Gesprächen über wichtige Themen sollten wir Christen uns nicht scheuen, auf die Quelle unserer Einsichten und Hoffnungen hinzuweisen: auf den lebendigen Gott, der jeden Menschen liebt, in unfassbar überfließendem Maß…


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