Aids und die Art, wie die Medien das Thema behandeln, sind ein geeigneter Anlaß, grundsätzlich über die Liebe und andere wesentliche Fragen des Menschen nachzudenken. Der Psychoanalytiker Tony Anatrella hat in einem Interview zu diesem Themenkreis Stellung bezogen:
Sagt uns die Aids-Epidemie etwas über unsere Gesellschaft?
Aids weist auf Probleme hin, die geleugnet werden. Es ruft zum Beispiel dramatisch in Erinnerung, daß wir nicht allmächtig sind. In der Euphorie des 18. und 19. Jahrhunderts wiegte man sich in der Illusion, die Wissenschaft werde einmal alle Krankheiten ausmerzen können. Man hat einfach darauf vergessen, daß Krankheiten sich mit unserem Lebensstil entwickeln. Wir müssen daher mit dem Auftreten neuer Krankheiten rechnen und die Medizin muß Bescheidenheit lernen. Andererseits haben wir den Tod aus unseren Städten und unserem Leben verbannt, diesen Tod, der wie eine Ungerechtigkeit erscheint. Aids erinnert uns daran, daß wir nicht unsterblich sind. Wir meinten unverwundbar zu sein und dieses Sicherheitsdenken spielte auch in die Sexualität hinein. Alles sollte möglich sein, physisch und psychisch. Durch Aids erinnert uns die Biologie jedoch daran, daß "Sex ohne Risiko" eine gefährlich Naivität ist.
Wo man alles banalisiert hatte, stellt ein Virus auf dramatische Weise die entscheidende Frage: Was ist der Sinn der Gefühls- und Sexualbeziehungen? Das Auftreten von Aids sollte uns zu der Frage führen, welches Ziel unser Verlangen hat und welchen Gebrauch wir von unserer Freiheit machen. Seit den fünfziger Jahren haben wir es jedoch abgelehnt, die Folgen unserer Taten und Verhaltensweisen zu bewerten. Ein Beispiel: Als Student habe ich an vielen Studien über die Großbauten mitgearbeitet. Damals ließen die Arbeiten erkennen, welche Folgen auf die Bewohner bei dieser Art von Architektur eintreten würden: Gewalttätigkeit und Entwurzelung. Obwohl man es wußte, hat man dennoch diese Ungetüme gebaut... Ähnlich verhält sich die Situation beim Themenkreis Verhalten: Die sexuelle "Befreiung" der siebziger Jahre - Befreiung der kindlichen und der Jugendsexualität - wollte uns glauben machen, daß unser sexuelles Verhalten ohne Folgen bleiben würde. Aids erinnert uns daran, daß wir für alles, was wir tun, verantwortlich sind.
Ist "Sex ohne Risiko" also einfach nur ein Mythos?
Ein Mythos, eine Illusion, ein gefährliches Mißverständnis. Dieses Modethema ist zu einem kategorischen Imperativ in den Dokumenten, der Anti-Aids-Propaganda und in den Biologiebüchern der Schulen geworden. Sobald man wagt, dies in Frage zu stellen, löst man leidenschaftliche Reaktionen und Aggressionen aus. Sie verhindern eine ruhige Abklärung der Frage. Wer die Jugend dazu aufruft, Verantwortungssinn für ihre Gefühle und Handlungen zu entwickeln, wird sofort als Moralisierer an den Pranger gestellt. Es ist das, was man politisch "korrektes Denken" nennt, also das was allgemein anerkannt ist.
Sie stellen die heutigen Kampagnen der Aids-Verhütung in Frage?
Indem man Präservative als Allheilmittel propagiert, vertritt man das Konzept einer risikofreien sexuellen Betätigung. Sie will man etablieren. Das widerspricht nicht nur vollkommen der Realität, sondern trägt paradoxerweise dazu bei, eine Mentalität des Mißtrauens und des Herausforderns zu entwickeln. Man muß wirklich in einer Traumwelt leben, wenn man zu erklären wagt, das Präservativ sei ein echter Schutz, mit ihm müsse man keine Angst haben... Vom Standpunkt der Gesundheitspflege mag das Präservativ eine Funktion haben. Man gibt ihm aber einen psychologischen Stellenwert, den er nicht hat. Man spricht ihm eine Fähigkeit zu, die man selbst nicht hat: sich zu beherrschen und Selbstvertrauen zu entwickeln.
Wie reagieren die Jugendlichen auf diese Propaganda?
Ich halte regelmäßig Vorträge in Schulen. Vor kurzem hat mir ein Schüler der sechsten Klasse gesagt: "Bald wird man eine richtige Überlebensausrüstung für sexuelle Beziehungen brauchen: Präservative, Pillen, Gels..." Ein anderer hat mir gestanden: "Ich hoffe, daß ich einmal jemanden lieben werde - aber nur ja kein Sex! Das Leben ohne sexuelle Beziehungen muß schöner sein..." Mit anderen Worten: Die Verbreitung all dieser Materialien, von denen die Eltern meist keine Ahnung haben, ist drauf und dran das Gegenteil von dem zu produzieren, was man erreichen will: eine Art Puritanismus oder neue Formen krankhafter Sexualität, etwa das Fehlen des sexuellen Verlangens.