In den vergangenen Jahren drang in das Gebiet der Psychologie ein neues Patentrezept, das Enneagramm, ein. Normalerweise wäre das zusammen mit anderen Modetherapien mit einem Schulterzucken abzutun, hätte das Enneagramm nicht eine alarmierende Verbreitung in katholischen Kreisen gefunden...
Es wird nämlich als wirksame neue Methode des geistigen Heilens propagiert. Die Folge davon ist, daß zahlreiche Exerzitienhäuser und Bildungseinrichtungen Heilungswochenenden mit dem Enneagramm als Wundermittel für die Menschheit anbieten. Dieser Artikel möchte diese Behauptung in Frage stellen und jene Katholiken, die nach wahrer innerer Heilung suchen, warnen, damit sie sich über Enneagramm-Illusionen informieren.
Zunächst ist das Enneagramm etwas anderes, als sein Begründer behauptet. Das System stammt von einem Mann namens Gurdjieff, der angibt, daß es auf der alten Sufi-Weisheit aufbaut. Der Umstand, daß diese einer heidnischen Weltsicht entspringt, sollte bei gläubigen Christen die Alarmglocken zum Läuten bringen.
Abgesehen davon, daß Gurdjieff die okkulte Sufi-Zahlenlehre übernimmt, schöpfte er keineswegs aus dieser uralten Gnosis, sondern entwickelte eine ganz neue, eigene Beschreibung von Persönlichkeitstypen. Die einzige Ähnlichkeit mit der Sufi-Tradition besteht darin, daß Gurdjieff das okkulte Sufi-Diagramm verwendet, das wie ein in einen Kreis eingeschriebener Stern aussieht. Folgt man Gurdjieffs Theorie stellt jede Sternspitze eine von neun verschiedenen Persönlichkeitstypen dar. Er behauptet, daß jeder Mensch einem dieser neun Typen zuzurechnen sei. Ohne Ausnahmen.
Als Psychotherapeut finde ich das extrem primitiv. Jede menschliche Person ist eine einmalige Schöpfung Gottes. Wohl können wir einige Persönlichkeitsmerkmale klassifizieren und zu Kategorien zusammenfassen. Die Unterschiede zwischen den Menschen aber fallen viel mehr ins Gewicht als diese Ähnlichkeiten. Zu unterstellen, Gott sei in Seiner Kreativität so beschränkt, daß Ihm nur neun Persönlichkeitstypen gelungen seien, ist ein Hohn.
Das heimtückischste Prinzip des Enneagramms ist, daß es Gott und Seine Gnade aus dem Heilungsprozeß eliminiert. Es behauptet, daß ein bestimmter Persönlichkeitstyp, um zu seiner Fülle zu kommen, nach der dem Diagramm entsprechenden Persönlichkeitsziffer streben muß. Ebenso wird eine Person dadurch abgebaut, wenn sie die andere Richtung einschlägt und die Merkmale des gegensätzlichen Typus annimmt.
Zum Beispiel: Eine "Nummer eins" gelangt zu größerer Fülle, indem sie sich bemüht wie "Nummer sieben" zu werden, wird aber durch die Nachahmung von "Nummer vier" abgebaut. Mit anderen Worten: Die geistige und psychische Gesundheit hängt von der Nachahmung eines anderen Menschen ab - und nicht, wie die Kirche seit jeher lehrt, von der Nachfolge Christi.
Das Enneagramm stellt sogar die Behauptung auf, daß Gott eine Mischung aller neun Persönlichkeitstypen sei. Dabei wird unterstellt, daß der unendliche, vollkommene Schöpfer nichts als ein vollkommener Mensch ist, der sich bei der Erschaffung der Menschheit in neun Varianten aufgespalten hat.
Das Enneagramm verleugnet de facto die Erbsünde, mißt der Gnade keine Bedeutung zu, macht unseren Bedarf nach Erlösung zum Gespött (können wir das doch durch Nachahmung von anderen Menschen selbst erreichen) und verwirft das Kreuz (können wir doch das Leiden vermeiden, wenn wir uns vom Enneagramm erleuchten und heilen lassen). Das ist ein gefährlicher New Age-Humanismus, der den Menschen vergöttlicht und das Ego durch Ausschaltung des wahren Gottes aufbläht. Der Glaube an mich selbst ersetzt da den Glauben an Gott.
Das Enneagramm ist eine auf den Menschen zentrierte Philosophie, die die Worte Johannes des Täufers vergißt: "Er muß wachsen und ich abnehmen." Nur indem wir uns selbst sterben und Jesus erlauben, in uns zu wachsen, werden wir Rettung finden. Es ist nicht wirklich verwunderlich, daß das Enneagramm in der katholischen Kirche Anhänger findet, nährt es sich doch von einer Bewegung, die sich gegen die moralische Autorität der Kirche wendet. "Eure Augen werden aufgehen, und ihr werdet wie Gott sein und Gut und Böse erkennen" (Gen 3,5) So ist das Enneagramm eigentlich nur die Ursünde von Adam und Eva, schön verpackt für das 20. Jahrhundert.
Der endgültige Beweis für den Betrug ist, daß das Enneagramm weder einen wissenschaftlichen Beweis für die Existenz der neun Persönlichkeitstypen, noch dafür liefern kann, daß seine sogenannte Therapie irgendjemandem hilft. Kein Psychologe könnte aber je ein System akzeptieren, das es ablehnt, sich einer strengen Prüfung zu unterziehen.
Schließlich verleitet es den Uninformierten dazu, sich in das okkulte Wissen einweihen zu lassen. Damit wird ein Unwissender zum Schnellsieder-Psychologen und Experten in Fragen des menschlichen Wesens.
Ich finde es äußerst irritierend, von einem Enneagramm-"Experten", der eine zwei Tages-Indoktrination hinter sich hat, belehrt zu werden, ich sei eine "Nummer vier"! Es ist verdrießlich so eingeteilt zu werden von jemandem, der "weiß", nur weil er zu wissen glaubt, der aber nicht Jahre mit vertrauenswürdigem Studium in einem wissenschaftlich anerkannten Bereich verbracht hat.
Da ziehe ich es bei weitem vor, eine einmalige Schöpfung Gottes genannt zu werden, von Ihm gerufen, um in Ihm mein wahres Selbst zu finden. Jesus hat gesagt: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben." (Joh 14,60). Das ist die beste Psychologie, die mir je untergekommen ist.
Dr. Bob McDonald ist Arzt, Diakon und Psychotherapeut in Ontario. Sein Beitrag erschien in "Catholic Familiy" II/1999