Im Februar 2020 wurde bekannt, dass Jean Vanier in den Jahren 1975 bis 2005 mit mehreren erwachsenen, geistig nicht behinderten Frauen als deren geistlicher Begleiter sexuelle Beziehungen gehabt haben soll. Die Leitung der von ihm gegründeten Gemeinschaft „Arche“, die geistig behinderte Menschen betreut, und die französischen Bischöfe sind entsetzt. Wir können nur hoffen, dass dieser Mann, der zweifelhaft sehr Großes geleistet hat, sollten die ihm vorgeworfenen Handlungen, zu denen er nicht mehr Stellung nehmen kann, der Wahrheit entsprechen, spätestens vor seinem Tod, seinen Frieden mit Gott gemacht hat.
Jean Vanier, Gründer der „Arche“, ist in der Nacht zum 7. Mai 2019 gestorben. Dank ihm haben viele Menschen mit den verschiedensten Behinderungen Vertrauen in sich, neuen Lebensmut und Freude gefunden. Zweimal, vor vielen Jahren, habe ich Jean Vanier getroffen, allerdings ohne ein Interview mit ihm zu machen. Das erste Mal war beim Familienkongress 1986 in Paris und das zweite, Jahre später, in Frankreich, in Paray-le-Monial. Damals sah ich ihn mit geistig behinderten Jugendlichen: väterlich, geduldig und zärtlich, sich Zeit nehmend für jeden einzelnen. Es tat gut, ihm zuzuschauen.
Auffallend an ihm: Sehr groß, aber leicht gebückt unterstrich das die Demut und Liebenswürdigkeit, die er ausstrahlte. Ein weiser Mann. Ein Leben in großer Liebe, ganz den Schwächsten unter den Menschen gewidmet. Dieses Portrait beruht auf Berichten und Interviews mit ihm sowie auf Videos von einigen seiner wunderbaren Vorträge.
Geboren wurde er im September 1928 in der Schweiz als viertes von fünf Kindern. Sein Vater ist damals Vertreter Kanadas beim Völkerbund und wird später Generalgouverneur in Kanada. Als Kind liebt er es, anderen Streiche zu spielen. Als Jugendlicher besitzt er eine gewisse natürliche Autorität Gleichaltrigen gegenüber, ist keiner, der sich einfach anpasst. 1942, Jean ist 13 – in Europa herrscht Krieg –, äußert er den Wunsch, in die Marine einzutreten. Er will für Gerechtigkeit kämpfen. Alle Gegenargumente des Vaters fruchten nicht, und so gibt dieser schließlich mit den Worten nach: „Ich vertraue dir. Wenn du es unbedingt möchtest, dann geh.“ Dieses Vertrauen des Vaters wird für Jean eine treibende Kraft in seinem Leben bleiben. „Dieses Wort hat mir Leben gegeben,“ wird er später sagen.
So tritt er zunächst als Kadett ins „Britannia Royal Navy College“ in Dartmouth ein und verbringt in der Folge acht Jahre in der englischen und kanadischen Marine. Zuletzt dient er als Marineoffizier auf dem kanadischen Flugzeugträger „HMCS Magnificent“. „In der Kriegsmarine musste man schnell sein, effizient funktionieren, Leistung erbringen und die Waffen wirkungsvoll einsetzen, um den Gegner schnell zu zerstören. Begegnung mit anderen sagte mir nichts. Doch dann bin ich in einem bestimmten Moment Jesus begegnet, und Er hat mein Herz berührt. Ab da verspürte ich eine Sehnsucht nach Frieden und Licht statt nach Krieg und wollte die Evangelien besser kennenlernen. Ich fühlte mich zu Jesus, zur Liebe hingezogen.“
Im Anschluss an eine Wallfahrt nach Lourdes nimmt er Abschied von der Marine, beschäftigt sich mit Fragen des Glaubens. Einige Zeit lebt er in einer Gemeinschaft bei Paris, lernt P. Thomas Philippe kennen, eine für sein Leben entscheidende Begegnung. Der Priester führt ihn in „Eau Vive“, ein kleines internationales Zentrum für geistige Bildung ein. Dort beginnt Jean, Theologie und Philosophie zu studieren. Er denkt daran, Priester zu werden. Im „Institut catholique de Paris“ setzt er das Studium fort. Nachdem P. Thomas aus geheim gehaltenen Gründen die Ausübung des Altardienstes untersagt wird, versickert Jean Vaniers Eifer, Priester zu werden, ohne dass sein Respekt für den väterlichen Pater davon betroffen ist.
Nach Abschluss des Doktorats beginnt er ein Leben der Besinnung, des Gebets und der Armut: in der „Hotellerie de la Trappe“, dann ein Jahr in einem Bauernhaus in der Orne, gefolgt von zwei Jahren in Fatima als Halberemit. Wieder in Kanada, verteidigt er eine These über die Ethik Aristoteles’ und beginnt ein Lehramt an der Universität von Toronto. 1963 besucht er in einem kleinen Dorf in Frankreich seinen Mentor, P. Thomas, der zu diesem Zeitpunkt ein Zentrum für 30 Erwachsene mit geistiger Behinderung als Seelsorger führt.
Vanier, der dieser Begegnung etwas ängstlich entgegenblickt, fragt sich: „Wie kann man mit solchen Menschen reden und worüber?“ Dann aber erschrickt er, als er begreift: „Dieses Ausgehungertsein nach Liebe und Freundschaft hat mich tief betroffen gemacht. Durch ihre Augen, ihre Gestik und mit Fragen wie: ‚Wie lange bleibst du, wann kommst du wieder?’, war dieses Bedürfnis stark zu spüren. Studenten stellen solche Fragen nie.“
„Ich lernte damals eine ganz neue Welt kennen: die Welt der Menschen mit intellektuellen Mängeln, Behinderungen, Menschen, die als wertlos betrachtet wurden, gedemütigt, ausgespottet und unterdrückt, deren Eltern dafür geschmäht und entehrt worden waren – hieß es doch oft, dass sie aufgrund ihrer Sünden solche Kinder hatten – und diese daher möglichst bald in irgendwelchen Anstalten abgegeben hatten.“
Vanier beginnt, Menschen mit psychischen Behinderungen aufzuspüren: in psychiatrischen Kliniken, Irrenanstalten und an anderen Orten, in denen die Lebensbedingungen unwürdig, ja oft brutal sind. Er erlebt dort ein immenses Elend, etwa das eines Burschen, der angekettet im Eck einer Garage dahinvegetiert. „Eine Welt, die ich nicht kannte. Ich hatte eher die Welt der Gewinner, nicht der Verlierer gekannt.“
In einer dieser Anstalten – 40 Betten in einem Saal – lernt er Raphael und Philippe kennen. „Raphael war in seiner frühen Kindheit an Meningitis erkrankt, konnte nicht sprechen, Philippe hatte Enzephalitis gehabt und im Gefolge Lähmungserscheinungen an den Gliedern.“ Und lächelnd fügt er hinzu: „… sprach fast zuviel. Beide konnten keine Schule besuchen und waren früh in der Anstalt gelandet, die mehr einem Gefängnis glich.“ Vanier fragt die Beiden, ob sie bei ihm wohnen wollten. „Ich konnte sie nicht dort lassen. Natürlich wollten sie das, Hauptsache raus!“
Jean fühlt sich von Gott berufen, mit ihnen zu leben. Er kauft ein kleines Haus in Trosly- Breuil, nördlich von Paris und zieht mit beiden Männern im August 1964 dort ein. „Eigentlich haben die zwei das Foyer gegründet,“ reflektiert er. Weder im Kochen noch im Sauberhalten begabt, erzählt er, waren die drei Männer und ihre Tiere (sie hatten sich Hasen gewünscht) die Hälfte des Tages mit dem Verdrecken der Wohnung beschäftigt und den Rest der Zeit mit dem Versuch, alles wieder sauber zu bekommen.
Er erzählt weiter: „Wir begannen miteinander zu leben, gingen einkaufen, putzten, kochten, arbeiteten im Garten… Ich wusste wirklich nichts über die Bedürfnisse behinderter Menschen, wollte nur Gemeinschaft mit ihnen schaffen. Natürlich neigte ich dazu, ihnen zu sagen, was sie tun sollten: Ich organisierte, plante den Tagesablauf, ohne nach ihren Wünschen, ihrer Meinung zu fragen. Wahrscheinlich war das in mancher Hinsicht notwendig. Ich musste jedoch eine Menge lernen, um auf die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung hören zu können…“
Im Rückblick stellt er fest: „Es hat Zeit gebraucht, bis ich ihr Leid verstehen lernte: das fundamentale Leid des Menschen besteht darin, sich allein zu fühlen, nicht geliebt zu sein und zu meinen, man könne nie geliebt werden. So auch die Beiden: abgeschoben, nicht geliebt, nur als wertlose, nicht als ganzheitliche Wesen wahrgenommen. Also gab es Wut- und Gewaltausbrüche. Das musste aus ihnen heraus.“ Bald merkt Vanier, dass seine Mitbewohner nicht mit einem Menschen, der als Offizier zu befehlen gewohnt gewesen war und als Professor alles besser wusste, leben wollten. „Sie brauchten einen Freund, mit dem sie zusammen sein konnten. Einen, der sie so nimmt, wie sie sind, mit ihren Schwächen und Grenzen.“
Vanier musste erkennen lernen, „dass sie Qualitäten haben, die ich nicht hatte, und dass sie, wenn sie sich geliebt wussten, sich weiter entwickeln, dazu lernen können, weil eben noch vieles in ihnen steckt.“ Er entdeckte, wie wertvoll behinderte Menschen waren – und: „Ich haben so vieles über sie und über mich gelernt.“
Im Zusammenleben mit seinen zwei Mitbewohnern erfuhr Vanier, dass es die Armen sind, „die uns zu Jesus führen, da Gott im Schwachen gegenwärtig ist. Gott hat das Verrückte in der Welt dazu auserkoren, die Weisen zu beschämen, und das Schwache um die Starken zu demütigen.“ Er beschreibt diesen Werdegang folgendermaßen: „Natürlich wollte ich Jesus folgen, Ihn kennenlernen, Ihn lieben, aber mehr als Lebensideal, als darum tatsächlich in einer Gemeinschaft zu leben. Ich brauchte Zeit, um all die Verletzungen in mir, die Ängste vor dem anderen zu erkennen. Befehlen, wie in der Marine, ja, lehren, ja, folgen, ja, lernen, ja – aber sich anderen gegenüber verwundbar zu zeigen, war viel schwieriger.“
Und zusammenfassend: „Doch wenn man sich darauf einlässt, sich dem anderen öffnet, seine eigenen Schwächen preisgibt, so öffnet sich unser Herz und ganz neue, überraschende Horizonte werden erkennbar.“ Nicht umsonst steht in 2 Kor 12,9: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Ja, Jesus ist den Schwachen nahe. Das alles ist wohl das Thema, über das er am liebsten spricht: die Liebe zu Menschen mit Behinderungen und was diese Liebe bei ihnen selbst, aber auch bei denen, die mit ihnen leben, bewirken kann.
Aus dem Haus, in dem Jean Vanier mit Raphael und Philippe lebt, wird schnell eine größere Gemeinschaft. Junge Leute kommen und fühlen sich von der Gemeinschaft angesprochen. Mehr Männer und Frauen mit Behinderungen werden aufgenommen. So entstehen weitere Foyers im selben Dorf. Zwar haben Idealismus, ein tiefer Glaube und Vertrauen in Gott die Arche auf den Weg gebracht. Aber bald wird auch deutlich, dass ein realistischer Blick auf ihre Möglichkeiten und professionelle Unterstützung für die Förderung bestimmter Fähigkeiten notwendig sind.
1965 übernimmt Vanier dann die Leitung eines bestehenden Behindertenheimes in Val Fleuri. Dort leben 32 Männer mit geistiger Behinderung. Dieses Heim verändert er so, dass auch dort behinderte und nicht behinderte Menschen in einer Hausgemeinschaft miteinander leben.
„Das Große war: Die Jungen, die da kamen, um zu helfen, kamen aus einer Kultur des Wettbewerbs und der Normalität. Ja, ich würde sagen, aus der Tyrannei der Normalität: Du musst gewinnen, besser, klüger sein als andere, die Karriereleiter hinaufsteigen, du musst Macht über andere ausüben können, Geld haben… Zunächst fühlten sie sich den Behinderten überlegen, kamen, um zu beweisen, dass sie diesen Menschen etwas Gutes tun konnten. Ein wenig von oben herab.“
Und dann die Entdeckung: „Nun lebten sie mit sehr verletzten, zerbrechlichen, gedemütigten Menschen zusammen, die zwar keine Macht hatten, aber die Kraft der Liebe und der Zärtlichkeit besaßen. Diese Jungen mussten entdecken, dass es beim Menschsein nicht darauf ankommt zu gewinnen, Macht zu haben, der Beste zu sein, sondern dass man nur mit der Macht der Liebe und der Zärtlichkeit wahrer Mensch werden kann, dass man nur so der Mensch werden kann, der man sein sollte.“
So wurden die von Vanier gegründeten Foyers zu Orten, wo Menschen erfahren konnten, was es heißt, wirklich zu lieben: nicht nur etwas für andere zu tun, sie anzuleiten, etwas besser zu machen, sondern sich wirklich auf sie einzulassen.
Vanier erzählt da gerne eine Geschichte: „Da war einmal ein Mitarbeiter der Arche, der mit männlichen Prostituierten arbeitete, um sie aus deren Umgebung herauszuholen. Im Park findet er eines Tages einen dieser Burschen, der gerade an einer Überdosis Drogen stirbt. Betroffen hört er dessen letztes Wort an ihn: ,Du wolltest mich immer nur verändern, aber nie wirklich kennenlernen.“ Seine Schlussfolgerung: „Wer jemanden kennenlernen will, muss ihm zuhören, ihn bitten: Erzähl mir deine Geschichte. Wo ist dein Schmerz, wo ist dein Herz, was wünscht du dir?“ Also sich wirklich auf den anderen einlassen, um ihm so zu eröffnen, dass er kostbarer, wichtiger, wertvoller ist als er je dachte; ein einzigartiger Schatz mit einer besonderen Würde. Das heißt zu lieben.
Diese Einsicht gilt eigentlich für alle Menschen, denen wir begegnen. Erst wenn wir gelernt haben, dass jeder Mensch gleich welcher Rasse oder Religion, gleich ob arm oder reich, begabt oder unbegabt, dass jeder eine kostbare Person und von Gott geliebt ist, können Barrieren fallen. Dann entsteht wahre Begegnung, werden Orte wahren Friedens in der Welt geschaffen, die ausstrahlen. Wer gelernt habe, sein Herz zu öffnen, meint Vanier, brauche auch keine Angst mehr vor den anderen, vor eigenem Versagen zu haben, er muss niemandem mehr etwas beweisen. Sich und anderen nichts beweisen zu müssen, könne man bei behinderten Mitbewohnern lernen, so Vaniers Erfahrung. Sie gehen diesbezüglich einen unbefangenen Weg, fühlen sich nie besser als andere. Wie viel entspannte, unbeschwerte Freude wird da gelebt! Und wie wunderbar, lustig, ja ein bisserl verrückt geht es da so zu!
Wie wichtig ist es daher, dass jeder Mensch in der ersten Beziehung, die er als ganz schwaches, zerbrechliches Wesen erlebt, nämlich der Beziehung zur Mutter, mitbekommt, dass er geliebt wird und wunderschön ist, so wie er ist. Das sei fundamental wichtig für jeden von uns, betont Vanier. „Wenn ein Kind im Moment der Geburt nicht geliebt wird, erleidet es eine große innere Verwundung. Aus dieser Pein erwachsen dann Verzweiflung und Wut. Dieser Mensch muss sich später ständig beweisen, immerfort um seinen Wert kämpfen, er wird immer danach suchen, geliebt zu werden.“
Und da sind wir beim Thema Familie, das Jean Vanier stets sehr wichtig war. Die Vision Gottes für die Menschheit sei die Einheit, erklärt er. Einheit beginnt in der Familie. „Die Einheit von Mann und Frau ist Quelle des Lebens, fruchtbar und Träger von Hoffnung.“ Vanier hat schon 1986 beim Internationalen Familienkongress den Zuhörern ans Herz gelegt: „Familie ist dazu berufen, eine Oase des Lebens und des Friedens zu sein . Familie und Ehe leben vom gegenseitigen Vertrauen: des Mannes in seine Frau und umgekehrt. Das schafft Einheit, einen Leib, eine Familie.“
Schon vor 30 Jahren sprach er von den großen Bedrohungen, den Kräften der Zerstörung, denen die Familie ausgesetzt ist. Er sagte damals: „Die Brüche in der Gesellschaft sitzen tief. Und ich bin sehr besorgt zu sehen, wie sehr das Vertrauen zwischen Mann und Frau immer mehr in Brüche geht… Der Mangel an Basisvertrauen sitzt tief und ist mächtig, ebenso wie der Mangel an Glauben, dass in der Einheit von Mann und Frau Gott gegenwärtig ist.“
Wo sieht der alte weise Mann Hoffnung? „Die Hoffnung unserer Welt, davon bin ich überzeugt,“ sagt er, „entspringt nicht unserer Fähigkeit zu produzieren und zu schaffen, sondern in der Familie, in den Gemeinschaften, sie hat ihre Quelle darin, Leben zu schenken, durch das Entdecken der vielen unglaublich tiefen Quellen des Lebens in uns.“ In den Foyers, die schon 1969 auch im kanadischen Toronto und im indischen Bangalore, ab 1970 auch in anderen Orten Frankreichs und dann weltweit entstanden, wird genau das praktiziert und mittlerweile auch in den 150 Gemeinschaften der Arche in mehr als 40 Ländern.
Anlässlich eines Vortrags bei Ordensschwestern in Kanada, erkennt Vanier, dass er von Gott die Gabe bekommen hatte, das Wort Gottes zu verkünden. Damals entstehen die Bewegung „Foi et Partage“ (Glaube und Teilen) und weitere Bewegungen in diesem Sinne. Mit Marie-Hélène Mathieu, der Gründerin von OCH, einer christlichen Hilfsvereinigung für behinderte Menschen, organisiert er eine Wallfahrt für Personen mit Behinderung und deren Familien nach Lourdes, da sie erlebt hatten, wie zwei geistig behinderte Kinder in Lourdes weggedrängt worden waren. Als die Wallfahrt endlich stattfindet, nehmen 12.000 Pilger teil, davon 4.000 mit Behinderung aus 15 Ländern. Dieses Treffen ist der Startschuss für „Glaube und Licht“, eine Bewegung, die Gemeinschaften gründet, in denen geistig behinderte Personen sowie deren Familien und Freunde, vor allem junge Leute, sich regelmäßig in einem christlichen Geist treffen, zu feiern, um ihre Freundschaft zu teilen, miteinander zu beten und das Leben hochzuhalten .
1980 verlässt Jean Vanier seine Aufgabe als Leiter der Arche, um in der ganzen Welt Zeugnis zu geben. Er besucht die Gemeinschaften, hält Einkehrtage und verkündet, stets mit seiner blauen Jacke bekleidet, seine Vision des Menschen: „Chaque homme est une histoire sacrée – jeder Mensch ist eine Heilsgeschichte.“
Was mich besonders betroffen gemacht hat? Seine Botschaft, dass man den Menschen, mit denen man zusammenlebt, die Freiheit einräumen müsse, die sie zum Wachsen brauchen. Das gilt besonders für die Ehe. Es gilt, den anderen in seinem Anderssein zu respektieren, seine Grenzen zu achten und ihm Raum geben. Es heißt, sein Anderssein lieben zu lernen, ihn anzunehmen, wie er eben ist. Und das erfordert innere Größe.
Und daher ist es entscheidend, niemals auf die Quelle der dafür notwendigen Kraft zu vergessen, auf den lebendigen Gott. Er kann aus der gängigen Haltung „alle für mich“ ein „ich für die anderen“ wachsen lassen.
Ähnliches gilt für die Freundschaft, die auch schwierige Momente durchzustehen vermag. Sie erfordert Bereitschaft, für den anderen etwas zu riskieren und in jeder Situation zu ihm zu stehen.
Beide, die Ehe wie die Freundschaft brauchen die Bereitschaft zu vergeben. Und damit bin ich bei einem weiteren von Vaniers Lieblingsthemen: Auch hier beginnt das mit der Grundeinsicht, dass niemand dem anderen überlegen ist. Vergeben bedeutet, sich von Überlegenheits- bzw. Unterlegenheitsgefühlen freizumachen und einzusehen, dass wir zwar verletzt wurden, selbst aber auch verletzt haben. Vergeben heißt nach Vanier auch, an die Möglichkeit zu glauben, dass sich der Mensch ändern kann, sogar man selbst. Damit sei der Weg zum Heil offen. „In jedem Menschen strahlt ein Licht,“ sagt er.
Viele gute, wichtige Denkanstösse Jean Vaniers, die ich leider nicht alle wiedergeben kann, haben mich betroffen, nachdenklich gemacht. Aber nicht nur mir ist es so gegangen. Hören wir, was andere über ihn gesagt haben: „Er hat gedient, nicht befohlen. Er kam wie ein Philosophieprofessor und ging, indem er erklärte, die Behinderten hätten ihm das Lachen beigebracht.“ Oder: „Jean hatte den Kopf im Himmel und das Herz bei den Zerbrechlichsten.“
Im Oktober 2017 erleidet Jean Vanier einen Herzinfarkt. 2018 gibt er Famille Chrétienne ein Interview, in dem er neuerlich betont, dass die „Verwundbarkeit ein Schrei ist“, den wir in dieser Welt, wo der Wettbewerb vorherrscht unbedingt hören müssen. Die letzten Monate seines Lebens verbringt er in seinem kleinen Haus in Trosly-Breuil.
Heuer, am 18. April kommt er in Palliativpflege in der „Maison médicale Jeanne Garnier“ in Paris. Am Tag vor seinem Tod ist auch Marie-Hélène Mathieu zusammen mit ihm Nahestehenden bei ihm. Sie singen und beten gemeinsam. Jean kann nicht mehr sprechen, aber durch schwaches Drücken von Marie-Hélenes Hand zeigt er, dass er dabei ist, und das Lied von „Glaube und Licht“, das voll von Hallelujas ist, mitträgt. In der Nacht stirbt er.
Ich werde ihn immer vor mir sehen, wie er sich in Paray-le-Monial, umgeben von Schützlingen, die mit ihm gekommen waren, ihnen liebevoll und väterlich zuwandte. Ein wunderbares Beispiel für jeden Vater, jede Mutter, für jeden dem andere Menschen anvertraut sind.
Marie- Hélène erinnert sich wie sie Jean zum ersten mal gesehen hat und erschüttert dachtr: ich habe gerade einen Schatz gefunden. Der Schatz des Evangeliums den er verkörpert hat: „Vater ich preise dich, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast.“ Mat.11,25
Niemals hat Vanier daran gezweifelt, dass es Wege aus den Nöten dieser Welt heraus gibt. Denn: „Wir sind zum Leben aufgerufen, zur Einheit, zur Liebe und dazu unserer Welt eine Hoffnung zu geben.“