Am 28. Juni im Heiligen Jahr 1975 fand auf dem Petersplatz in Rom eine Liturgieprobe für die kommende Priesterweihe statt. Kardinal Virgilio Noë musste 359 Diakone auf die Weihe durch Papst Paul VI. vorbereiten. Als einziger Weihekandidat aus dem deutschsprachigen Raum wurde mir ein Namensschild an das Ordensgewand angeheftet: „P. Bernhard Vošický OCist Heiligenkreuz“
Am Platz neben mir kleidete sich ein Dominikaner aus Tschechien ein: „P. Tomaš Týn OP
Brno“. Er entdeckte meinen tschechischen Familiennamen und ich den seinen. Wir kamen miteinander auf Italienisch ins Gespräch. Er erzählte mir von seiner Emigration aus seiner Heimat aufgrund des kommunistischen Regimes mit seinen Eltern nach Deutschland (Neckargemünd).
Er berichtete mir ausführlich von seinem Vorhaben, am morgigen Weihetag sein Priesterleben in die Hände der Gottesmutter Maria zu legen und für die Befreiung seines Vaterlandes von der antikirchlichen Gewaltherrschaft aufzuopfern, entsprechend der Vollkommenen Hingabe an Jesus Christus, die menschgewordene Weisheit durch die Hände Mariens nach dem heiligen Ludwig Maria Grignion von Montfort. Ich war begeistert von dem Vorsatz, da ich seit 1969 auch jährlich diese Weihe vollzogen hatte. Wir beschlossen beide, während der langen Weihehandlung (4 Stunden) zu beten: „Ich bin ganz dein, meine Königin und meine Mutter und alles, was ich habe, ist dein.“
Als der heilige Papst Paul VI. uns am Hochfest der Apostelfürsten Petrus und Paulus, den 29. Juni, die Hände auflegte und uns zu Priestern des Herrn weihte, hat Maria wohl dieses Versprechen gehört und am 1. Jänner 1990 angenommen. Ende 1989 (am 31. Dezember) wurde im St. Veitsdom in Prag von Kardinal František Tomašek ein Te Deum angestimmt in Anwesenheit von Präsident Vaclav Havel als Dank für Tschechiens Befreiung von der kommunistischen Diktatur.
Am nächsten Tag starb P. Tomaš Týn an den Folgen eines bösartigen Kopftumors. Gott hat sein Lebensopfer angenommen.
In Rom habe ich für den Seligsprechungsprozess als Ohrenzeuge beim Postulator P. Cavaletti über seine Lebenshingabe ausgesagt und diese notariell bestätigt.
P. Bernhard Vošický OCist
Tomaš wurde am 3. Mai 1950 in Brünn, Tschechoslowakei, geboren. Er wuchs im Kreis der Familie im christlichen Glauben auf trotz dessen Verbot unter der Herrschaft des Kommunismus. Der Vater war Arzt. Schon mit 12 Jahren äußerte Tomaš den Wunsch, Priester zu werden, obwohl es die Mutter lieber gesehen hätte, wenn auch er Arzt geworden wäre.
Nach Abschluss der Grundschule erhielt er als bester Schüler des Landes ein Stipendium an einer Höheren Schule in Dijon, wo er 1969 maturierte. Dort lernte er den Dominikanerpater Henri-Marie Feret kennen. In dieser Zeit befasste er sich auch mit Sprachen wie Französisch, Russisch, Deutsch, Hebräisch, Griechisch und Latein. Schon 1968 hatten seine Eltern die Tschechoslowakei verlassen und fanden in Deutschland eine neue Heimat.
Von Frankreich aus übersiedelte Tomaš ebenfalls nach Westdeutschland, wo er 1969 in Wartburg in den Dominikanerorden eintrat. Begeistert erzählte er schon nach dem ersten Aufenthalt im Kloster von der Bibliothek: „Oma, ein Riesensaal voller Bücher!“ Schon damals war er sich seiner Berufung sicher, erinnert sich Prof. P. Walter Senner OP, 1969 Betreuer des Neueintretenden, sein „Engel“, bei seinem Zeugnis anlässlich des Seligsprechungsprozesses für P. Tomaš. Gebet und Lesen seien das Lebenselixier des jungen Dominikaners gewesen. „Fand man ihn weder am Zimmer noch in der Bibliothek, war er sicher in der Kapelle,“ erzählt P. Senner.
Im Noviziat sei Tomaš stark vom damaligen Novizenmeister geprägt worden, dem Anbetung und Marienfrömmigkeit besondere Anliegen waren. Schon im ersten Jahr des Noviziats fiel Tomaš durch enorme Lernbereitschaft und mutiges Stehen zu einmal gewonnenen Einsichten auf. In dieser Zeit studierte er bei Prof. Otto Hermann Pesch, einem liberalen Theologen. Im Rahmen des Studiums verfasste Tomaš eine Arbeit zum Thema Eucharistie, die den Ansichten des Professors eher widersprachen. Weil die Arbeit jedoch so fundiert argumentierte, akzeptierte dieser das Werk seines Studenten. Seine philosophische Arbeit im 2. Studienjahr umfasste 200 Seiten (viermal so viel wie normal). Sein Professor erklärte: „Eigentlich wäre das eine Abschlussarbeit für das Lizenziat.
Diesen Stil behielt Týn bei seinen zahlreichen weiteren Arbeiten bei, auch als er nach Bologna übersiedelt war. Der deutsche Ordenszweig, in dem es in den nachkonziliaren Jahren nach den Worten von P. Senner drunter und drüber ging (100 Dominikaner mit ewigen Gelübden verließen den Orden), ließ den konservativen Mahner gerne ziehen. Dort legte Fr. Tomaš 1973 die feierliche Profess ab und erwarb kurz danach die Lehrbefähigung im Orden mit der Arbeit „Die göttliche Gnade und die Rechtfertigung des Menschen in der Theologie des hl. Thomas von Aquin und Martin Luthers.“ Am 29. Juni 1975 wurde Fr. Tomaš in Rom zum Priester geweiht.
Drei Jahre später promovierte er mit der Dissertation „Über die Rechtfertigung des Menschen und seinen freien Willen vor und von Gott“ an der Päpstl. Universität des hl. Thomas von Aquin in Rom zum Doktor der Theologie. Nach Bologna zurückgekehrt, nahm er am dortigen Ordensstudium seine Tätigkeit als Professor für Moraltheologie auf. In seinen Vorlesungen vertrat er klar und eindeutig die Lehre der Kirche, was ihm im links ausgerichteten Bologna nicht nur Sympathie einbrachte.
1980 wurde P. Tomaš in die Leitung des Ordensstudiums aufgenommen. Er predigte oft und begeistert und war in verschiedenen Kreisen seelsorglich tätig. Er suchte die Nähe zu Fernstehenden und erschloss ihnen den Weg zum Glauben und in die Kirche. Mit Weisheit und Sachkunde war er im Beichtstuhl tätig und von vielen als geistlicher Begleiter und Seelenführer geschätzt.
P. Tomaš liebte Gespräche über die wesentlichen Fragen und war bestens gerüstet für Diskussionen mit Fernstehenden und Atheisten. P. Senner erinnert sich z.B. an das Erstaunen eines tschechischen Marxisten, der feststellen musste, wie vertraut P. Tomaš mit den Lehren von Karl Marx war, ohne selbst Marxist zu sein. In solchen Gesprächen gab sich der Dominikaner keineswegs als Besserwisser aus. Vielmehr verstand er es zuzuhören, ließ dem anderen seine Ansichten, war jedoch imstande, diesen etwas so entgegenzusetzen, dass der Gesprächspartner nicht abblockte.
So berichtet P. Senner von einem Gespräch mit einem atheistischen schwedischen Studenten, das am Petersplatz begann, in einem Lokal bei Bier fortgesetzt wurde und so lange dauerte, bis dem Studenten die Argumente ausgingen und das Bier zu viel geworden war. P. Tomaš und Senner brachten den Gesprächspartner dann heim, besser gesagt: Sie trugen ihn.
P. Tomaš litt sehr unter den damaligen Zuständen im Orden: das Experimentieren in der Liturgie, die Absage an die Ordensregeln, besonders im deutschsprachigen Raum. Die Erneuerung seines Ordens war ihm ein großes Anliegen. Daher beteiligte er sich an einer Initiative junger Mitbrüder, zu den Wurzeln zurückzukehren, das gemeinsame Gebet zu beleben, die Tracht zu Ehren kommen zu lassen, zur Treue zum Lehramt zurückzufinden… Im Zuge dieses Bemühens wurden Treffen im österreichischen Retz im dortigen Dominikanerkloster organisiert, an denen auch P. Christoph Schönborn, jetzt Kardinal und Wiener Erzbischof teilnahm.
Auch in Augenblicken tiefschürfender Analyse vergaß P. Tomaš keineswegs seinen Auftrag als Dominikaner, dem das Wohl und die Heiligung der ihm anvertrauten Seelen am Herzen lag. Darum fehlte in seinen Reden nie die Fürsorge des Seelenhirten, auch dann, wenn die Vielschichtigkeit seines Denkens ihn in die Abstraktion fern von der sichtbaren Wirklichkeit zu führen schien.
P. Týn wurde oft als zu einseitig, als „Traditionalist“ und Gegner fortschrittlicher Theologie gesehen. Sein Biograf Giovanni Cavalconi nennt ihn einen „nach-konziliären Traditionalisten“, um auszudrücken, dass P. Tomaš trotz seiner Gegnerschaft zu progressivem Gedankengut nicht zu reaktionären Bewegungen zählt, die bewusst verächtlich als „traditionalistisch“ etikettiert werden.
Mitten im Leben stehend, brach Tomaš’ robuste Konstitution plötzlich zusammen, als ihn mit 39 Jahren die schreckliche Krankheit befiel, die innerhalb von zwei Monaten zum Tode führte. Er ertrug seine Leiden mit großem Gottvertrauen in Tapferkeit und Gelassenheit.
Nach seinem heiligmäßigen Tod eröffnete der Erzbischof von Bologna, Kardinal Carlo Caffarra, 2006 in der dortigen Dominikanerkirche den Beginn des Seligsprechungsprozesses.