Der Mensch ist immer wieder mit Situationen konfrontiert, deren Herausforderungen er sich nicht gewachsen fühlt. Sich da zu fürchten, ist eine normale Reaktion. Problematisch wird es, wenn die Angst übergroß wird und in keiner Weise der Bedrohung angemessen ist. Gespräch über den Umgang mit Ängsten mit einem Psychotherapeuten:
Als Psychotherapeut hast Du mit Menschen zu tun, die mit unterschiedlichen Ängsten belastet sind. Was ist das gemeinsame Merkmal dieser Ängste? Was kennzeichnet Menschen, die sich mit Ängsten herumschlagen?
Univ. Doz. Raphael Bonelli: Es geht in allen Fällen um die Wahrnehmung einer Gefahr, einer Gefahr, die starke Gefühle auslöst. Es gilt, zwei Arten von Gefühlen zu unterscheiden: affirmative, also Gefühle, die ja sagen, die positive Reaktionen auslösen. Man hat Lust auf etwas, ein Stück Kuchen zum Beispiel. Auf der anderen Seite die aversiven Gefühle, die Unlust auslösen: Hass, Ekel und insbesondere Angst.
Sie ist allerdings nicht nur negativ zu sehen…
Bonelli: Nein, denn die Angst sagt mir auch: Hier ist eine große Gefahr. Insofern hat Angst durchaus einen nützlichen Effekt. Denn wenn eine Bedrohung da ist, dann aktiviert sie in mir Adrenalin und das sympathische System… Dann kann ich flüchten oder aber kämpfen: „Flight or fight“, die klassischen Reaktionsmöglichkeiten. Und die sind nützlich. Nur muss diese Reaktion angemessen sein. Sie muss in einer richtigen Relation zur tatsächlich bestehenden Gefahr stehen.
Sollte man da nicht begrifflich unterscheiden: Auf der einen Seite Furcht, die eine angemessene Reaktion auf Gefahr ausdrückt, auf der anderen Seite Angst, die Menschen nicht adäquat auf Bedrohung reagieren lässt?
Bonelli: Man könnte sagen, Furcht sei vernünftig, Angst unvernünftig, aber in der Literatur wird das meistens nicht unterschieden. Ich spreche lieber von einer vernünftigen und einer unvernünftigen Angst. Jedes Bauchgefühl – und die Angst ist ein Bauchgefühl – muss von der Vernunft durchdrungen und geprüft werden: Besteht dieses Gefühl zurecht oder nicht? Denn wenn die Angst zu groß wird, hat die Vernunft nichts mehr zu sagen. Das bezeichnet man dann als Panik. Und in einer Panik machen Leute ganz absurde Sachen. Weil sie nicht mehr denken können, entscheiden sie dann sehr oft falsch. Das ist das Phänomen der unvernünftigen Angst. Sie überschätzt die Bedrohung.
Tritt so eine Angst ein, wenn ich die Erfahrung mache, dass ich nicht angemessen auf die Bedrohung, die mir vor Augen steht, reagieren kann? Löst diese Erfahrung Panik aus?
Bonelli: Ja, dann ist Kontrollverlust gegeben. Aber wichtig ist mir noch, Folgendes zu ergänzen: Die pathologische Angst ist dadurch gekennzeichnet, dass sie Gefahren überschätzt. Das gilt ganz allgemein. Bildlich gesprochen gibt es Patienten, die nicht aus dem Haus gehen, weil sie Angst haben, ein Dachziegel könnte ihnen auf den Kopf fallen. Diese Gefahr ist einerseits realistisch: Fällt nämlich ein Ziegel vom Dach, so kann das tödlich sein, wenn man ihn auf den Kopf bekommt. Aber andererseits ist so ein Ereignis äußerst unwahrscheinlich. Die pathologische Angst verliert diese Unwahrscheinlichkeit aus den Augen. Der Angstpatient hat daher Angst vor etwas, was tatsächlich gefährlich ist, aber er überschätzt die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieses Ereignisses. Wenn ich mein Haus aus Angst vor Löwen nicht verlasse – so könnte ich theoretisch im Recht sein, weil ein Löwe aus Schönbrunn entlaufen sein und hier vorbeikommen könnte. Aber – wie es jedem einleuchtet – ist das extrem unwahrscheinlich. Ähnlich ist die Angst vor Schlangen oder Spinnen. Zusammenfassend: Es handelt sich um ein Bedrohungsszenario, das überschätzt wird. Und das sehen wir auch bei diesem Corona-Phänomen.
Welche Reaktion legen Menschen an den Tag, die von solcher Angst geplagt sind?
Bonelli: Es gibt Menschen, die sind relativ stabil – und solche, die anfällig für solche Ängste sind. Man spricht in diesem Zusammenhang von Resilienz. Sie ist eine Stabilität, die es dem Menschen ermöglicht, von Krisen und schwierigen Situationen nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Wer nicht über solche psychischen Abwehrkräfte verfügt, der fällt schnell um. Er kippt leicht in den Bedrohungsmodus und in die Panik.
Wovon hängt die erwähnte Resilienz ab?
Bonelli: Da gibt es verschiedene Faktoren. Einer davon ist die Religiosität. Wir wissen heute, dass jemand, der fest in seinen religiösen Anschauungen verwurzelt ist, psychisch stabiler ist und weniger leicht kippt. Zurück zu Corona: Menschen im Risiko-Alter, die fest verbunden mit Gott leben, also Menschen mit Gottvertrauen, geraten meist nicht in Panik, es könnte sie jemand anhusten.
Ein zweiter für Resilienz bestimmender Faktor ist die Ichbezogenheit. Denn Angst hat sehr viel mit dem Ich zu tun. In der Angst wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen. Er vergisst das Wir. Das Ich steht im Vordergrund, eventuell noch „ich und meine Kinder“. Alles dreht sich darum. Daher wird man sehr oft in der Angst rücksichtslos. Also: Menschen, die zu sehr um sich selber kreisen, reagieren leichter mit Angst als solche, die gemeinschaftsbezogen sind. Je besser ein Mensch sich selbst relativieren kann, umso weniger neigt er zu pathologischer Angst.
Welche Rolle spielt nun die schon eingangs erwähnte Vernunft? Kann jemand, der besser imstande ist, Situationen zu analysieren, Gefahren auch besser relativieren?
Bonelli: Es gibt durchaus intelligente Menschen, die viele Ängste haben, irrationale Ängste. Das hat damit zu tun, dass man in der Angst keinen Zugriff auf seine Vernunft hat. Es kommt also gar nicht so auf die Intelligenz an, sondern darauf, wie sehr der Mensch mit sich selbst im Gleichgewicht ist. Es geht darum, durch langes Lernen die Tugend der Klugheit zu erwerben, die es einem ermöglicht, Emotionen zu relativieren. So kann er die Vernunft einschalten und sich selbst beherrschen. Er sagt sich dann: Ich habe Lust auf etwas, aber vernünftig ist es nicht – und es entspricht nicht meinen Werten. Wie gesagt: Dazu muss man die Tugend geübt haben.
Wer aber ganz aus dem Bauch heraus lebt, wie es die zeitgeistigen Menschen heute vielfach tun, wird auch angstanfälliger. Und Angst macht manipulierbar. Auf diesem Hintergrund ist auch folgendes Phänomen zu sehen: Die mediale Berichterstattung und das gesamte gesellschaftliche Gefüge sind so emotional aufgeladen, dass man leicht ins Schwarz-Weiß-Denken verfällt: Corona ist schrecklich, die Maßnahmen sind notwendig… Man differenziert nicht mehr, kann nicht mehr vernünftig diskutieren…
Immerhin hört man jetzt doch auch andere Sichtweisen…
Bonelli: Ja, jetzt kippt es zum Teil. Es gibt immer mehr Regierungskritiker – aber erst nach sechs Wochen! Am Anfang kamen sie nicht zu Wort. Erst jetzt lassen das die Medien wieder zu. Das zeigt, wie emotionalisiert unsere Gesellschaft ist. In ihr gibt es auch die Psychologie des „Shitstorms“. Das funktioniert so: Wenn 10 gegen etwas sind, muss ich auch dagegen sein. Beim Phänomen des Shitstorms gibt es kein Nachdenken. Da stellt man jemand an den Pranger, er gilt als böse – und ich schließ mich dem Urteil an, ohne viel nachzudenken. Das gab’s im Mittelalter, aber es kommt heute wieder. Da wird die Vernunft ausgeschaltet, helfen kann da nur die Tugendhaftigkeit.
Du meinst also, dass heute vielfach der Diskurs nicht vernunft-, sondern emotionsbestimmt abläuft…
Bonelli: Wir durchdringen vieles weniger mit einer gesunden Distanz, sondern reagieren mit direkter Betroffenheit. Im Corona-Fall heißt das: Wir sprechen nicht davon, dass der Virus durchaus gefährlich sei und die Hochbetagten durchaus auch in ihrem Leben bedroht, Jüngere aber nicht wirklich gefährdet seien, sondern es heißt: Dieser Virus gefährdet meine Großmutter – und deswegen muss er ausgemerzt werden. In den letzten Wochen haben wir oft gehört: „Wir schützen Leben, wir schützen die Alten, wir schützen uns.“ Dagegen gibt es natürlich kein rationales Argument. Wer kann dagegen etwas sagen? Sagt nun jemand, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand stirbt, sei gar nicht so groß und man dürfe andere Bedrohungen nicht aus den Augen verlieren – dann kommt das nicht mehr an. Er steht da, als wäre er jemand, der Alten keinen Schutz gewähren will.
Wie geht man nun als Psychotherapeut mit der Angst des Patienten um?
Bonelli: Ich unterscheide beim Menschen Kopf – Herz – Bauch. Bauch ist die Emotionalität, Kopf ist die Vernunft, das Herz ist die Entscheidungsmitte des Menschen. Wer zu mir kommt, will Hilfe haben. Also versuche ich auf der Vernunftebene mit der Person zu analysieren, wie rational diese Angst denn ist. Also, um im Beispiel von vorher zu bleiben: Wie wahrscheinlich ist der Fall des Dachziegels auf den Kopf? Macht es Sinn deswegen zu Hause zu bleiben?
Es geht also um die Einbeziehung der Vernunft?
Bonelli: Als Therapeut ist es meine Aufgabe, empathisch auf die Gefühle einzugehen, zu zeigen, dass ich die Gefühle verstehe. Andererseits zeige ich auch die andere Seite des Problems auf.
Ist das der einzige Ansatz?
Bonelli: Als dritte Komponente haben wir ja noch das Herz. Man kann zwar Angst vor etwas haben, diese Angst jedoch akzeptieren um eines höheren Zieles willen. Es gab ja zum Beispiel viele Priester und Gläubige, die Pestkranke betreut haben und selber an der Krankheit zugrunde gegangen sind. Dieses Verhalten war zwar „unvernünftig“, aber gut, weil die Menschen einem höheren Ziel gedient haben. Es geht in diesem Fall um die Frage: Was für ein Mensch möchte ich sein? Konkret: Will ich jemand sein, der für Corona-Kranke da ist – und womöglich an der Krankheit stirbt, wenn er sich ansteckt? Es gibt also nicht nur die Vernunft, die Frage nach der Nützlichkeit, sondern eben auch die nach Gut und Böse. Letztere entscheidet sich im Herzen und orientiert sich am Wahren, Guten, Schönen – an Gott.
Dazu noch ein Gedanke: Die meisten Ängste lassen sich auf die Todesangst zurückführen. Beispiel Spinnenphobie: Die Spinne könnte mich anfallen und ich gehe elend zugrunde. Religiösen Menschen rate ich dann, Schritt für Schritt zu lernen, den Tod anzunehmen, den Gedanken einzuüben: Ich nehme den Tod aus Gottes Hand an, wann immer er kommt. Wer dies schafft, stellt fest, dass die Angst gewissermaßen ins Leere greift.
Dr. Raphael Bonelli ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut in Wien. Mit ihm sprach Christof Gaspari.