Zur Bestimmung des Menschen gehört, nur in Grenzen leben zu können: in den Grenzen seiner Endlichkeit: seiner Sterblichkeit, seiner Zerbrechlichkeit, seiner Ohnmacht, nicht zuletzt in den Grenzen seines nie zulänglichen Wissens und seiner immer endlichen Vernunft. Leid, Tod und Hinfälligkeit, Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit sind Erfahrungen, die wir oft genug machen, aber genauso oft schnell wieder vergessen wollen. Das ist kurzsichtig, weil es uns den Blick auf uns selbst verstellt.
Nicht erst seit Max Frischs Roman „Homo faber“ aus dem Jahr 1957 wissen wir, dass jenes Selbstbild, das uns Francis Bacon vor genau 400 Jahren als Ideal vor Augen stellte, in eine Selbsttäuschung mündet, die uns wirklichkeitsblind macht: Verfügbarkeit, Machbarkeit, Beherrschbarkeit – das sind Idole, keine Ideale. Die Erfahrung von Leid ist keine Grenzerfahrung, sondern Alltagserfahrung des Menschen.
Wer das bestreitet, hat vielleicht viel von jener Empfindsamkeit verloren, derer es bedarf, auch im Zustand bester Gesundheit zu wissen, dass schon morgen das Leben zu Ende sein kann. Warum ist das wichtig? Weil eine Gesellschaft, der in angemessener Weise diese letzten Fragen vor Augen stehen, anders lebt: besonnener, dankbarer, gesammelter, aufmerksamer – das Ende bedenkend.
Das Bewusstsein, nur in Grenzen leben zu können, heißt schließlich auch: zu wissen, dass hinter dem Leitbild einer ganz und gar entgrenzten Welt die Unmenschlichkeit lauert. Eine erste und richtige Reaktion auf ein alle Grenzen weltweit überschreitendes Ereignis, die Pandemie, war die Wiederentdeckung der Bedeutung von Grenzen.
Nicht nur, weil Regierungen nur so ihrem verfassungsmäßigen Auftrag, das Volk zu schützen, gerecht werden konnten; sondern auch deshalb, weil Grenzen notwendig sind und bleiben, um bestimmte grundlegende Ordnungsaufgaben zu erfüllen.
Sicher, Grenzen können behindern und trennen. Aber sie können auch helfen, den Überblick zu bewahren, ja, wie sich jetzt zeigt, Leben zu retten. Wer von ihrer restlosen Abschaffung träumt – und Nationalstaaten gleich mit auf die Müllhalde der Geschichte befördern will, ist Gefangener eines Albtraums.
Die inneren Widersprüchlichkeiten der Globalisierung verdienen mehr Aufmerksamkeit, als wir ihnen bisher geschenkt haben. Ist unsere Lebensform von einem Menschenbild geprägt – oder folgt unser Selbstverständnis den vermeintlichen Zwängen einer äußerlichen Lebensform? Um diese Frage geht es.
Auszug aus Die Tagespost v. 23.4.20