Eine der schlimmsten Erschütterungen eines Menschen wird durch Krisen seiner Identität ausgelöst. Warum aber ist die Annahme seiner selbst so schwer? Warum ist die Schwermut in unserer Zeit so verbreitet?
Ein Grund mag darin liegen, dass die Zusage nicht von frühester Kindheit an vernommen wurde: ..Es ist gut. dass es dich gibt.“ Selbstwert ist nämlich nicht angeboren, sondern muss vermittelt werden. Die ersten, die uns diese Zusage geben können, sind unsere Eltern.
Wir kommen auf die Welt und haben im ersten oder zweiten Lebensjahr die erste Ahnung davon, dass wir jemand anderer sind als Mama oder Papa. Wie ist dann das Verhältnis zu uns selbst? Ist das ein angeboren gutes Verhältnis? Sage ich ja zu mir – es ist gut, dass ich da bin? Ist das so?
Dieses grundlegende Wertgefühl ist etwas, das mir nicht einfach mitgegeben ist. Es braucht jemand, der mir das zuspricht, der mir diesen Raum gibt und mich willkommen heißt.
Im Vergleich zum Tierreich ist der Mensch besonders auf andere angewiesen, schon körperlich. Es gibt im Tierreich Nestflüchter und Nesthocker. Diese müssen erst noch ernährt werden, bevor sie die ersten Schritte machen oder ausfliegen können. Nestflüchter sind gleich nach der Geburt fähig, sich selbst zu ernähren. Der Mensch ist in dieser Hinsicht ein extremer Nesthocker.
Das heißt ganz klar, dass der Mensch erst zu einem Verhältnis zu sich selbst finden muss. Das zentrale Gebot unseres Glaubens hat im Grunde zwei Teile: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ Selbstliebe ist also ein Gebot, nicht nur ein frommer Wunsch. Im Grunde kann ich nur etwas geben, das ich vorher empfangen habe.
Wie komme ich aber dazu, ja zu mir zu sagen? Ich muss es hören, nicht nur einmal, sondern immer wieder. Es fängt damit an, dass es jemand gibt, der für mich da ist, der mir Halt gibt – in der Regel ist es am Beginn die Mutter. Dasein heißt in diesem Sinne gegenwärtig sein. Im Buch Exodus stellt sich Gott gerade in dieser Weise vor: „Ich bin der Ich-bin-da.“ Das ist das Fundament, der Boden, auf dem ich stehen kann. Wenn niemand da war, der mich gehalten hat, der mich willkommen geheißen hat, können tiefe Ängste aufbrechen. Hier spielen die ersten Bezugspersonen, Vater und Mutter, in meinem Leben eine wesentliche Rolle.
Das zweite ist, dass sich jemand mit mir beschäftigt, sich für mich interessiert. Besser ausgedrückt: Es hat mir jemand gesagt, ja mich spürbar erfahren lassen: Es ist gut, dass ich da bin.
In der Ehe sind wir einander von Gott her zugedacht, einander anvertraut. Wir können Sehnsüchte und Ängste zur Sprache bringen. Es hört uns jemand zu – ohne gleich mit Ratschlägen bei der Hand zu sein – und sagt vielleicht: „Danke, dass Du mir das gesagt hast. Jetzt verstehe ich dich ein bisschen besser!“ Ich bin überzeugt: Viele Ehen könnten dadurch bereichert, ja erhalten werden. Aber in den traurigen Verstimmtheiten und Depressionen geht jedes Wertgefühl verloren.
Dasein meint: es ist gut, dass ich da bin, dass es mich gibt. Sosein bedeutet, ich darf so sein, genau so einzigartig wie ich bin. Es gibt viele, die sagen, dass ich da bin, ist selbstverständlich. Aber so: mit meiner Nase, mit meiner Stimme, mit meiner Schüchternheit. So nicht. Da muss sich einiges ändern, damit ich den Erwartungen der anderen entspreche. Das betrifft auch den Ausdruck unserer Gefühle: Das darf ich sagen, und das darf ich nicht sagen.
Wie wirkt sich das in der Ehe aus? Mein Partner schaut mich nicht an, sagt irgendetwas und ich fühle, wie ich innerlich zu „kochen“ beginne. Er kann nichts dafür. Aber ich werde zornig. Warum? Weil ich das schon früher erlebt habe. Weil vielleicht der einzige Mensch, der mir früher diesen Raum hätte geben können, sehr oft hinter seiner Zeitung war, mich nicht angeschaut und nur irgendetwas gemurmelt hat. Der Augenkontakt war nicht da. Um da sein zu dürfen, muss ich aber gesehen werden. Das erlebe ich in dem Augenblick wieder. Mein Ehepartner hat vielleicht wirklich etwas anderes empfunden, aber ich bin zornig. Was mach ich jetzt damit? Ich spüre, wie eine alte Wut in mir aufsteigt: Der lehnt mich ab! Der hat keine Zeit für mich! Das ist meine Geschichte, meine Prägung!
Daher ist es so wichtig, über Prägungen mit dem Partner zu sprechen. Geschieht dies nicht, hat er keine Ahnung davon, was ich damals empfand. Ich habe es ihm noch nie erzählt. Also muss ich es ihm erklären, ihm sagen: Das hat mir wehgetan, weil du mich nicht angeschaut hast. Deshalb bin ich wütend geworden.
Daher ist das Gespräch wichtig. Ich kann dir mitteilen: „Das hat mir wehgetan.“ Und du kannst beim nächsten Mal aufpassen und mich anschauen, wenn du mit mir redest. Deshalb muss ich zu mir, zu meiner Geschichte Ja gesagt haben, auch zu meinen Gefühlen, zu dem, was mich zuinnerst bewegt.
Selbstannahme beginnt mit der Entscheidung, sich selbst anschauen zu wollen. Erst wenn ich zu mir sagen kann: Es ist gut, dass es mich gibt, kann ich auch sagen: Es ist gut, dass es Dich gibt. Ich nehme Dich so an, wie du bist, ohne dich nach meinen Vorstellungen "zurechtzustutzen". Das braucht einen Raum ohne Angst, einen Raum der Geborgenheit. Und der wird bestimmt durch das Ja, das zu mir gesprochen wird.
Das ist eigentlich das Geheimnis von Weihnachten. Einer, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden, verzichtet auf diese Macht, wird unseretwegen arm, liefert sich aus, wird zum schutzbedürftigen Kind. Er, der uns in diese Welt gerufen hat, jeden einzelnen auf einzigartige Weise, will uns deutlich machen, wie wertvoll wir für Ihn sind, wie sehr Er uns liebt.
Das ist das große Ja, das über jedem Leben steht. Er hat diese Machtlosigkeit durchgehalten bis zum unschuldigen Tod am Kreuz. Das ist für mich der Ausbruch aus diesem Teufelskreis. Letztlich kann ich es nur aus dem Glauben heraus beantworten. Aber ich kann es mit jedem Atemzug erfahren. Ich habe nie atmen wollen, mich hat nie jemand gefragt, ob ich leben will. Aber mit jedem Atemzug nehme ich ein Ja zu mir auf. Da will jemand, dass ich da bin. Das ist das Grundangebot, die Grundlage der Selbstannahme. Das ist das Ja, das wir eigentlich einander zusagen sollen: Es ist gut, dass es dich gibt.
Der Autor ist Psychotherapeut und Leiter der Salzburger Familienakademie.