Als ich sechs war, staunte ich, als meine Großmutter plötzlich an Krücken ging - und bettelte in aller Kindlichkeit darum, diese eindrucksvolle Art der Fortbewegung einmal nachahmen zu dürfen. Doch die für sie hilfreichen Stöcke waren für mich zu groß und zu schwer.
Als ich sechzehn war, ging ich selbst an Krücken - und hätte ich damals schon geahnt, was in den nächsten Jahren diesbezüglich noch auf mich zukommen würde, so wären sie mir wohl auch da noch zu groß und zu schwer erschienen...
Und dennoch möchte ich heute diese Erfahrungen nicht missen: einmal am eigenen Leib zu spüren, wie es ist, wenn man ganz ausgeliefert ist - ganz preisgegeben an das Wohlwollen, die Hilfe und die Launen anderer Menschen: unfähig, für sich selbst zu sorgen oder die intimsten Verrichtungen allein zu bewältigen, unfähig sogar, sich im Bett auch nur umzudrehen. Stattdessen war damals jeder Schritt eine Mühe, jede Treppenstufe eine Leistung, jedes selbständige Sich-Aufrichten eine Qual.
In dieser Zeit habe ich gelernt, Alter und Krankheit mit anderen Augen zu sehen, als es heute vielleicht üblich ist (z.B. mit all den verkrampften Versuchen, Vorschulkindern das Alter verständlich zu machen, indem man ihnen Brillen, Handschuhe oder Gewichte überstülpt, die das Nachlassen der Sinnesfunktionen und der Bewegungsfähigkeit verdeutlichen sollen).
Ich habe zum Beispiel noch eine alte Großtante, an der ich sehr hänge und die zu besuchen ich mich nach Kräften bemühe. Zwar weiß ich, daß sie schon lange nicht mehr gehen kann und den ganzen lieben langen Tag an ihrem Platz auf der Eckbank sitzt - aber ich weiß auch, daß dabei ihr Geist immer noch beweglich ist: weil sie immer noch ein Herz voll Liebe hat.
Ich weiß, daß sie, seit sie das 95. Lebensjahr überschritten hat, schon kaum mehr sehen kann - aber ich weiß auch, daß die Augen ihres Herzens noch immer scharf sind. In meinen Briefen, die ihr jemand vorlesen muß, liest sie immer noch auch zwischen den Zeilen...
Zwar weiß ich, daß ihre Hände aufgrund von eingeklemmten Nerven schon lange taub und so gefühllos sind, daß sie weder Stift noch Nadel halten kann (und auch nicht spürt, wenn ich sie streichelnd in die meinen nehme) - aber ich erfahre trotzdem immer wieder neu, daß sie die Kunst nicht verlernt hat, mit offenen Händen zu geben.
Zwar weiß ich, daß auch ihr Gehör schon schwach geworden ist, so daß es nötig ist, laut zu sprechen und sehr deutlich - aber ich weiß doch auch, daß sie sich ihr inneres Sensorium bewahrt hat, um die vielen leisen Zwischentöne des Herzens und der Stimmung zu erfühlen.
Zwar weiß ich, daß es unklug wäre, sie zu fragen, was sie am Vortag gemacht oder gar gegessen habe (denn ihre Tage sind längst schon wie Fäden in einem großen Knäuel, das sich immer wieder verheddert) - und dennoch weiß ich, daß sie gleichzeitig die lebendige Erinnerung an über 90 Lebensjahren in ihrem Herzen trägt und davon lehrreich zu erzählen weiß: von "früher", vom "Leben damals" und von so manchen Opfern, manchem Leid. (Doch wenn sie das manchmal tut, dann so sachte und bescheiden, daß dann ich es bin, die Ohren und Herz weit öffnen muß, um nicht die leisen Zwischentöne zu verpassen...)
Zwar weiß ich, daß inzwischen viele meinen, ihr jetzt scheinbar so "untätiges" Dasein wäre nur noch ein "Warten auf das Ende" - aber ich weiß auch, daß sie in ihrer ganzen Gebrechlichkeit mit zu denen gehört, die im Verborgenen die Last dieser Welt auf ihren Schultern tragen: durch ihr Ertragen, durch ihr Fürbitten, durch ihr Ja-Sagen zu Gott im Gebet. (Und selbst, wenn sich auch dabei der Geist schon verwirrt, dann ist auch das ein Stück Entäußerung und Anteil an der Armut Christi, der am Kreuz ebenfalls erlebt hat, wie Geist und Sinne immer schwächer wurden, bis zum: "Es ist vollbracht!")
Wir Jungen müssen darum neu lernen, unsere Augen aufzumachen, und dürfen uns nicht länger täuschen lassen durch die Oberflächlichkeit unserer Zeit!
Wir müssen lernen, durch die äußerlichen Dinge hindurchzusehen auf das Wesentliche: auf den Kern. Und das kann man nur, wenn man nicht am äußeren Schein hängenbleibt (etwa durch die Vorstellung, daß jemand "unnütz" sei, nur weil er nichts mehr "leisten" kann; oder auch dadurch, daß alte Menschen manchmal Eigenheiten entwickeln, die uns abstoßen oder unsere Geduld strapazieren.)
Auch die Tatsache, daß es sehr hart sein kann, einen bettlägerigen Alten jahrelang zu pflegen, soll uns das Wesentliche nicht verschleiern: Mitzuerleben, wie an einem anderen alles erlischt: die Funktionen des Körpers ebenso wie das Flackern des Geistes (und damit vielleicht auch die Güte des Herzens), bis er vielleicht nur noch eine leere Hülle scheint - auch das ist Teilhabe am Kreuz Christi! Und auch das soll uns Erbarmen abnötigen und Mitleid - nicht Lieblosigkeit und Härte.
Es gibt viele alte Menschen, die an ihrem Körper schwer zu tragen haben, aber die dennoch nicht daran bitter werden, sondern die im Gegenteil voll Milde sind und voller Schicksalsmut. Und auch, wenn ihr Leben äußerlich einem Rückzug gleicht, so können manche von ihnen uns innerlich doch sehr viel lehren: Hingabe und Zärtlichkeit und eine Herzensfreiheit wider alle Vernunft.
Letztlich sind es nämlich immer die schwachen Hände, die die Geschicke dieser Welt bewegen - weil gerade in ihrer Schwachheit jene Stärke liegt, die Gott uns allen schenken will...
Und wenn es nach einem Besuch bei meiner Großtante dann wieder Zeit ist zu gehen - und sie mich auch gehen läßt, ohne zu klammern, ohne zu jammern, ohne zu klagen -, so weiß ich, daß nicht ich es bin, die etwas gegeben hat, sondern sie. Und ich weiß auch, daß ich einem Menschen begegnet bin, dessen Jahre man im Gewicht seiner Liebe besser messen kann als in Ziffern und Zahlen - und nach dieser Liebe werden wir schließlich einmal alle gerichtet werden.
Dr. Andrea Dillon ist Germanistin und Autorin mehrerer Bücher.