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Suizid braucht Prävention, nicht Beihilfe

Artikel drucken Österreichs Verfassungsgerichtshof entscheidet demnächst über Beihilfe zum Selbstmord (Stephanie Merckens, Teresa Suttner-Gatterburg)

Nachdem in den meisten Staaten der Welt die Abtreibung etabliert ist, intensivieren sich seit längerem die Bemühungen der Gesellschaftsreformer, den Menschen beim Sterben zu „helfen“. Was nett klingt und als human verkauft wird, ist tatsächlich bewusst geförderte und legalisierte Lebensverkürzung. Auch Österreich bleibt nicht davon verschont.

Seit Mai 2019 sind vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) vier Verfahren anhängig, die die Aufhebung des § 77 StGB (Tötung auf Verlangen) sowie des § 78 StGB (Mitwirkung am Selbstmord) zum Ziel haben. In der Junisession 2020 wurden die Beratungen der Verfassungsrichter aufgenommen, im September sollen sie – u.a. mit einer öffentlichen Verhandlung – weitergeführt werden.
Wer steht hinter den Anträgen? Die Verfahren wurden ausgelöst durch vier Individualbeschwerden. Antragsteller sind ein an Multipler Sklerose erkrankter Mann, ein an Parkinson erkrankter Mann sowie ein 74-jähriger Mann, der seiner an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Frau beim Suizid assis­tiert hatte.
Der vierte Antragsteller ist ein Anästhesist und Intensivmediziner, der bereit wäre, Beihilfe zum Suizid zu leisten, wenn diese in Österreich legal wäre. Vertreten werden die Kläger durch den Wiener Rechtsanwalt Wolfram Proksch.
Proksch bildet zusammen mit Ludwig Minelli, dem Gründer des bekannten schweizerischen „Sterbehilfe“-Vereins „Dignitas“ und dem österreichischen Abtreibungsarzt Christian Fiala, Vorstand der „Österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende“. Dignitas finanziert die Verfahren und hat Proksch bereits vor zehn Jahren beauftragt, geeignete Antragsteller zu finden.

Deutschland setzt auf Selbstbestimmung
Das österreichische Verfahren bleibt nicht unbeeinflusst von der Rechtsprechung in Deutschland. Dort kippte das deutsche Bundesverfassungsgericht ausgerechnet am Aschermittwoch (26.2.2020) das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe. Obgleich die Richter die Gefahren einer legalen Suizidbeihilfe ausführlich bedachten, entschieden sie zugunsten des individuellen Selbstbestimmungsrechts anstelle des Schutzes von vulnerablen Personengruppen.
Dabei war für die deutschen Höchstrichter unstrittig, dass legalisierte Sterbehilfe zu mehr Suiziden führt. Auch dass die Angst vor Versorgungslücken im Gesundheitsbereich die Entscheidung zum Suizid fördert, wurde bejaht. Bestätigt wurde auch, dass als häufiges Motiv für assistierten Suizid der Wunsch angeführt werde, anderen nicht zur Last zu fallen.
All diese Überlegungen, die deutlich belegen, wie wenig „selbstbestimmt“ Suizidbeihilfe in Anspruch genommen wird, wenn sie sich einmal etabliert, teilt der Gerichtshof. Aber sie wogen für die deutschen Richter nicht schwer genug, um zu verbieten, mit der Hilfe zum Suizid Geschäfte zu machen.

Österreich tickt
anders – noch
Im Gegensatz zu den Erwartungen von „Sterbehilfe“-Befürwortern lässt sich das Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts aber nicht 1:1 auf Österreich übertragen. Im Gegenteil: Die österreichische Rechtslage ist in wesentlichen Punkten anders. Im Gegensatz zu Deutschland leitet Österreich sein verfassungsmäßig geschütztes Persönlichkeitsrecht direkt von Art 2 und Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ab (und nicht aus einem nationalen Grundgesetz wie in Deutschland). Daher ist für Österreich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entscheidend, und der hat wiederholt festgehalten, dass sich aus diesen Bestimmungen gerade kein (Menschen-)Recht auf selbstbestimmtes Sterben ableiten ließe. Es stünde den Mitgliedstaaten viel eher frei, ob sie in ihrem nationalen Einzugsbereich Sterbehilfe zuließen oder eben nicht.
Österreich geht seit Jahren konsequent einen eigenen Weg, was die würdevolle Begleitung Sterbender anbelangt. „An der Hand, nicht durch die Hand eines anderen Menschen sterben“, lautet ein wohlbekanntes Zitat von Kardinal König, der die Debatte hierzulande wesentlich prägte. Bei der parlamentarischen Enquete „Solidarität mit unseren Sterbenden – Aspekte einer humanen Sterbebegleitung in Österreich“ 2001 und der parlamentarischen Enquete „Würde am Ende des Lebens“ 2015 wurden die wesentlichen Eckpunkte einer menschengerechten Sterbebegleitung festgelegt.
So wurde der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung beschlossen, um schwerkranke Menschen in ihrer letzten Lebensphase optimal versorgen zu können, Schmerzen zu lindern, Ängste zu nehmen und um pflegende Angehörige zu unterstützen. Die Behandlungsautonomie wird großgeschrieben – niemand muss sich in Österreich gegen seinen Willen behandeln lassen. Mittels Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung kann der Wille des Patienten auch für Zeiten der Äußerungsunfähigkeit beachtet werden.
Die Rechtssicherheit für Ärzte wurde erst 2019 durch die Einführung des § 49a Ärztegesetz erhöht. Demnach kann der Arzt „palliativmedizinische Maßnahmen setzen, deren Nutzen zur Linderung schwerster Schmerzen und Qualen im Verhältnis zum Risiko einer Beschleunigung des Verlusts vitaler Lebensfunktionen überwiegt“.
Schließlich sagt Österreich Nein zu Tötung auf Verlangen und Mitwirkung am Selbstmord. Denn die normative Antwort auf Leiden darf nicht der Tod sein.

Das Sterbehilfe-Angebot weckt Nachfrage
Theo E. Boer ist niederländerischer Ethiker und gilt als wichtigster Proponent der damaligen Liberalisierung der Sterbehilfe in den Niederlanden. Mittlerweile hat er seine Position eklatant revidiert. In einem Interview gegenüber der Zeit vom Tag der Urteilsverkündung meint er: „Meine Vorstellung war auch, was man reglementiert, hat man im Griff. Das hat sich nicht bewahrheitet. Vielmehr hat sich gezeigt: Wenn man eine umstrittene Praxis legalisiert, stellt man sie in einem Schaufenster aus als Warenangebot. Ich habe feststellen müssen, dass das Angebot zum Teil tatsächlich die Nachfrage weckt.“
Der Ausgang der anhängigen Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist offen. Es bleibt zu hoffen, dass die Feststellungen des Deutschen Bundesverfassungsgerichts von größerer Relevanz sein werden, als dessen Schlussfolgerung. Denn mit dem deutschen Urteil ist es nun „amtlich“: liberalere Regelungen der Sterbehilfe führen zum Anstieg von Suiziden und Tötung auf Verlangen, erhöhen den Erwartungsdruck insbesondere auf kranke und schwache Personen, führen zur gesellschaftlichen Normalisierung des Suizids als Form der Lebensbeendigung und können rechtlich nicht langfristig beschränkt werden.
Angesichts dieser Faktenlage ist kein Grund ersichtlich, warum der österreichische Verfassungsgerichtshof vom bisherigen Verbot der Beihilfe zum Suizid abgehen sollte, geht es bei dieser Bestimmung doch gerade darum, andere nicht zum Suizid zu animieren. Einen derart starken Rettungsanker in der Suizidprävention sollte man nicht über Bord werfen.
Denn Suizid braucht Prävention, keine Mitwirkung.


Die Autorinnen, Dr. Merckens und Mag Suttner-Gatterburg sind Juristinnen am Institut für Ehe und Familie (IEF)
Weitere Informationen: www.ief.at, Schwerpunkt Lebensende, www.lebensende.at
Setzen auch Sie ein Zeichen! Stimmen Sie für den Beibehalt der österreichischen Rechtslage unter:
www.lebensende.at
Hinweis:
 Theo E. Boer kommt zum Salzburger Bioethik-Dialog vom 8.-10. Oktober zum Thema „Modernes Sterben“, siehe
www.salzburgeraerzteforum.com/salzburger-bioethik-dialoge-2020/

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