Es ist wesentlich, sich an das Gute zu erinnern, das man empfangen hat. Ohne die Erinnerung daran werden wir uns selbst fremd, werden wir zu „flüchtigen“ Existenzen; ohne die Erinnerung entwurzeln wir uns von dem Boden, der uns nährt, und lassen uns wie Blätter vom Wind davontragen. Erinnerung hingegen bedeutet, sich an die stärksten Bande zu halten, sich als Teil einer Geschichte zu erleben, sich mit einem Volk zu identifizieren. Erinnerung ist keine private Angelegenheit, sondern der Weg, der uns mit Gott und den Mitmenschen verbindet. Deshalb muss in der Bibel die Erinnerung an den Herrn von Generation zu Generation weitergegeben werden, sie muss vom Vater an den Sohn übergeben werden, wie es in einer schönen Bibelstelle heißt: „Wenn dich morgen dein Kind fragt: Warum achtet ihr auf die Eidesbestimmungen, auf die der Herr, unser Gott, euch verpflichtet hat?, dann sollst du deinem Kind antworten: Wir waren Sklaven – die ganze Geschichte der Knechtschaft – und der Herr hat vor unseren Augen Zeichen und Wunder getan“ (vgl. Dtn 6,20-22). Du sollst die Erinnerung an dein Kind weitergeben.
Aber da gibt es ein Problem. Was, wenn die Kette der Weitergabe des Andenkens abbricht? Und dann stellt sich auch die Frage, wie man sich an etwas erinnern kann, von dem man nur gehört, das man aber nicht selbst erlebt hat. Gott weiß, wie schwer das ist, Er weiß, wie schwach unser Gedächtnis ist, und so hat Er etwas Unglaubliches für uns getan: Er hat uns eine Gedächtnisfeier hinterlassen. Er hat uns nicht nur Worte hinterlassen, denn leicht vergisst man, was man hört. Er hat uns nicht nur die Heilige Schrift hinterlassen, denn leicht vergisst man das, was man liest. Er hat uns nicht nur Zeichen hinterlassen, denn leicht vergisst man auch, was man sieht. Er hat uns Nahrung gegeben, und es ist schwer, einen Geschmack zu vergessen. Er hat uns ein Brot hinterlassen, in dem er lebendig und wahrhaftig zugegen ist, mit dem ganzen Geschmack seiner Liebe. Wenn wir es empfangen, können wir sagen: „Es ist der Herr, Er erinnert sich an mich!“ Deshalb hat Jesus uns gebeten: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Tut dies: Die Eucharistie ist nicht einfach nur Erinnerung, sie ist eine Tatsache: Sie ist das Pascha des Herrn, der wieder neu für uns lebt. In der Messe stehen uns der Tod und die Auferstehung Jesu vor Augen. Tut dies zu meinem Gedächtnis: Versammelt euch und feiert als Gemeinschaft, als Volk, als Familie die Eucharistie, um euch an mich zu erinnern. Auf sie können wir nicht verzichten, sie ist die Gedächtnisfeier Gottes. Und sie heilt unser verwundetes Gedächtnis. (…)
Viele haben Erinnerungen, die von mangelnder Zuneigung und bitteren Enttäuschungen geprägt sind, die von Mitmenschen herrühren, die Liebe hätten geben sollen, stattdessen jedoch ihre Herzen verwaisen ließen. Man würde gerne zurückkehren und die Vergangenheit ändern, aber das geht nicht. Gott jedoch kann diese Wunden heilen und uns eine größere Liebe ins Gedächtnis rufen, nämlich die seine. Die Eucharistie bringt uns die treue Liebe des Vaters, die unser Verwaistsein heilt. Sie schenkt uns die Liebe Jesu, die ein Grab von einem Endpunkt in einen Ausgangspunkt verwandelt hat, und auf dieselbe Weise kann sie auch unser Leben auf den Kopf stellen. Sie gießt uns die Liebe des Heiligen Geistes ein, der tröstet, weil er uns nie allein lässt und unsere Wunden heilt.
Auszug aus der Predigt zum Hochfest des Leibes und Blutes Christi am 14.6.20