1929 als Tochter emigrierter Georgier in Paris geboren, macht Hélène Carrère dEncausse Karriere in Frankreich als Historikerin, ist mehrere Jahre Abgeordnete im EU-Parlament und Mitglied der „Académie Française“ als deren „Secrétaire perpétuel“. Im Folgenden ein Interview im Anschluss an den Corona-Lock-down.
Sie haben schlechte Erinnerungen an die Zeit des Lock-Down?
Hélène Carrère dEncausse: Mich hat die Angst, welche die Leute in der Zeit der Ausgangssperre erfasst hatte, betroffen gemacht. Auch ich habe mich nicht wohl gefühlt. Ich hatte den Eindruck, fortgesetzt gegen Mauern zu stoßen… Das hat mich daran gehindert, mit dem Schreiben an einer neuen Biographie, die mir sehr am Herzen liegt, zu beginnen…
Haben Sie unter der Isolation während dieser Periode gelitten?
Carrère dEncausse: Es hat mich sehr geschmerzt, die menschenleere Hauptstadt zu sehen – sie entsprach ja keineswegs den idyllischen Berichten, die man zu hören bekam. Für mich war das einfach nicht normal, eine tote Stadt zu betrachten! Diese Situation hatte etwas Beängstigendes, ja sogar Skandalöses an sich.
Inwiefern skandalös?
Carrère dEncausse: Abend für Abend zählte ein sicher kompetenter Arzt im Fernsehen makabre statistische Daten auf. Es klang wie ein Kriegsbericht. Ich war schockiert, denn es war weniger eine Information als eine Inszenierung. Frankreich war mit Covid-19 nicht im Krieg, es hatte es zu erdulden. Wer nur ein wenig die Geschichte kennt, versteht das.
Was lehrt uns die Geschichte denn diesbezüglich?
Carrère dEncausse: Verliert man die Geschichte aus dem Blick, dann verschwindet der Tod aus unserem Blickfeld. Kennen Sie die Legende des Rendez-vous von Samarkand? Es ist die Geschichte eines Reisenden, der nach Samarkand aufbrechen soll und dem ein Hellseher voraussagt, der Tod erwarte ihn dort. Um dem zu entgehen, beschließt der Reisende daraufhin, ans andere Ende der Erde zu flüchten. Als er dort in einer weit entfernten Stadt, in der er sich sicher wähnt, ankommt, begegnet ihm der Tod und sagt: „Wir hatten doch ein Rendez-vous…“ Es gehört nun einmal zum Schicksal des Menschen zu wissen, dass man noch heute Abend oder morgen sterben kann. Dieser Wille, den Tod auszublenden, erklärt die Schwäche unserer Gesellschaft im Umgang mit tragischen Ereignissen.
Wie äußert sich die panische Angst vor dem Tod?
Carrère d’Encausse: Da erzähle ich Ihnen noch eine Anekdote. Als mein Kollege Marc Dumaroli starb, sollte die Académie française eine Parte veröffentlichen. Ich legte größten Wert darauf, das Wort „Abberufung“ durch „Tod“ zu ersetzen. Es ist nicht zu glauben: Es gelang mir nicht! Man erklärte mir, dieses Wort sei ungebräuchlich! Man spricht zwar vom Sterbefall, aber das ist ein trockenes Wort aus dem Bereich der Verwaltung. Dieser semantische Verlust spricht Bände über den Zustand unserer Gesellschaft. Der Tod ist kein schickliches Wort, sondern ein verbotenes, ja undenkbares Wort!
…
Ist es nicht ein etwas veralteter Luxus, die französische Sprache zu verteidigen?
Carrère dEncausse: Zurecht hat Orwell geschrieben, man könne die Geschichte nicht nach Belieben manipulieren. Und Gleiches gilt für die Sprache. Der Konvent hat die Académie française 1791 abgeschafft, weil sie ein Symbol des „Ancien régime“ war und er hat das „Dictionnaire de l’Académie“, an dem gearbeitet wurde, konfisziert. Die Revolutionäre wollten Worte abschaffen und andere erfinden, um die Welt, die sie schaffen wollten, zu beschreiben. Im 20. Jahrhundert hat das Sowjetregime die Worte manipuliert, ebenso haben es die Nazis getan. Genauso wie Orwell finde auch ich, dass die Manipulation der Sprache ein wesentliches Kennzeichen totalitärer Regime ist.
Hélène Carrère dEncausse ist Generalsekretärein auf Lebenszeit an der Spitze der „Académie française“.
Das Gespräch ist ein Auszug aus einem Interview in Famille Chrétienne v. 1.-7.8.20