Erstaunliches konnte man in der Weihnachtsausgabe des Wochenmagazins "Der Spiegel" lesen: Die Zeitschrift, die jahrzehntelang wesentlich zum Abbau von tradierten Werte beigetragen hat, beklagt in ihrer Titelstory den Verlust von Moral in unserer Gesellschaft!
Da liest man Sätze wie: "Wer heute das Wort Moral auch nur in den Mund nimmt, läuft Gefahr, als Spießer oder Spaßverderber, als ,politisch korrekt' oder als Ewiggestriger verspottet zu werden." Beklagt wird, daß die soziale Gerechtigkeit unter die Räder komme, "obgleich sich doch darin eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre verbirgt: das Aufrechterhalten einer Solidargemeinschaft... Doch der moralische Kitt, der die Gemeinschaft solidarisch zusammenhält, beginnt zu bröckeln."
Weitere Diagnose: "Mit dem Zerfall der öffentlichen Moral geht - was Wunder - eine tiefe Verunsicherung der Bürger über ihre privaten ethischen Maßstäbe einher. Auch die sind, wie die Medien Tag für Tag kundtun, ganz offenbar aus den Fugen geraten. ... Die Erosion herkömmlicher Scham- und Moralvorstellungen läßt sich auch an den nachmittäglichen Talkshows ablesen."
Warum ich mich gerade mit diesem Artikel auseinandersetze? Zunächst weil er treffend unsere Situation analysiert. Es stimmt, die pluralistische Gesellschaft stößt an eine letzte Grenze, die längst erkennbar war: Sie verliert ihren Kitt, die gemeinsame Vorstellung von Gut und Böse, die Fähigkeit, dem einzelnen eine allgemein akzeptierte Lebensperspektive zu geben.
Die westlichen Gesellschaften sind zu Konsum- und Produktionsgemeinschaften verkommen. Sie appellieren an Egoismus und Lustbefriedigung. Die heutige Form des Kapitalismus drängt jedoch immer mehr Menschen aus den einzigen noch sinnvermittelnden Tätigkeiten, nämlich dem Konsumieren und Produzieren, heraus. Daher die "Spiegel"-Diagnose: "Am greifbarsten ist die Entwicklung zu einer Wert-losen Gesellschaft in der Wirtschaft. In diesem Bereich ist der Konsens, daß der Mensch, seine Würde und sein Wohlergehen das Maß aller Dinge sein sollten, am nachhaltigsten geschwunden."
Nun könnte ich billig polemisieren und dem "Spiegel" den Spiegel vorhalten: Wie sehr hat dieses Medium doch selbst zur heute beklagten Misere beigetragen! Aber darum geht es mir hier nicht.
Was mich mehr bewegt, ist die Ausweglosigkeit, in der diese zutreffende Analyse landet. Am Ende steht die vage Hoffnung, das von Hans Küng propagierte "Weltethos", ein Mix aus gemeinsamen Wertvorstellungen der Weltreligionen, könne uns aus der Misere befreien.
Glaubt irgend jemand ernsthaft, so ein blasses Gedankengebilde könne die Menschen zu der notwendigen radikalen Abkehr von Egoismus und vom Selbstverwirklichungstrip motivieren? Über ein Weltethos läßt sich nett bei Konferenzen und Diskussionsrunden plaudern, aber warum sollte sich irgendjemand an dessen Forderungen halten?
Die Analyse des "Spiegels" greift zu kurz. Nicht der Werteverlust ist das zentrale Problem unserer Zeit, sondern ihre Gottvergessenheit. Selbst wenn Vertreter der Religionen sich auf einen Wertekodex einigten - der Menschen Wohlverhalten wäre damit nicht reaktiviert. Woher sollten sie denn die Kraft nehmen, um aus ihren Verstrickungen herauszufinden?
Die Antwort ist nicht im Religionsmix zu finden, bei den Spezialisten für Sinnfragen. Es geht um die Öffnung für die Realität Gottes, der uns auch die Kraft zu einer radikalen Änderung geben kann und will. Die Lehre und der Geist Jesu Christi sind die Antwort auf die Suche des "Spiegels" nach Orientierung. Ein Appell an uns Christen, unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.
Christof Gaspari