Im Herzen von Bethlehem befindet sich eine Kapelle über der Grotte „Magharet Sitti Maryam“, wie sie die Christen vor Ort bezeichnen. Es ist die Grotte „Unserer Lieben Frau Maria“ oder „Milchgrotte“ genannt, in der die Heilige Familie gewohnt haben soll.
Gemäß einer frühchristlichen Tradition hielten sich Maria und Josef nach der Geburt Jesu in einem Stall von Betlehem (Lk 2, 7) eine gewisse Zeit in dieser Haus- oder Wohngrotte mit ihrem Kind auf. Dort hätten auch die Sterndeuter aus dem Morgenland als Vertreter der nichtjüdischen Welt das göttliche Kind verehrt.
Diese Tradition beruft sich auf den Evangelisten Matthäus (Mt 2,11), wo es heißt: „Als sie in das Haus gekommen waren, sahen sie das Kind mit Maria, seiner Mutter, und sie fielen nieder und huldigten ihm.“ Hier hätte auch Josef im Traum die Botschaft erhalten, vor den Soldaten des Herodes nach Ägypten zu fliehen (Mt 2,13-14): „Als die Sterndeuter wieder gegangen waren, siehe, da erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten. Da stand Josef auf und floh in der Nacht mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten.“
Eine außerbiblische Überlieferung aus dem 6. Jahrhundert erzählt weiter: „Nachdem Joseph von einem Engel vor der drohenden Gefahr für das Kind gewarnt war, bereitete er sich sofort auf die Reise vor und drängte die stillende Jungfrau, aufzubrechen. In ihrer Eile fielen ein paar Tropfen Milch zu Boden und der rosa Stein der Grotte wurde weiß.“ Der weiße Kalkfelsen der Grotte ist auf jeden Fall eine geologische Besonderheit der Gegend.
Tatsache ist, dass die Milchgrotte seit den ersten Jahrhunderten als „Haus der Heiligen Familie“ verehrt wird. Auch der Kirchenvater Hieronymus, der im 4. Jahrhundert über 30 Jahre in Bethlehem verbracht hat, berichtet davon. Um 385 wurde eine Kapelle darüber errichtet. Mosaikfragmente, Kreuze und Spuren von ursprünglichen Mauern sind bis heute erhalten geblieben.
Ab dem 7. Jahrhundert brachten Pilger Fragmente aus der Höhle, sogenannte „Marienmilch-Reliquien“ als Erinnerungsstücke nach Europa mit: Bruchstücke von pulverisiertem Gestein. Die ältesten, bekannten Beispiele sind zwei: Karl der Große erhielt nach 800 eines davon, das in einer Kirche der Picardie untergebracht wurde. Bischof Ascetino brachte eine Reliquie während der Belagerung von Ascalon im Jahr 1123 in das Lager Balduins III.
Ab dem 6. Jahrhundert hält das Gnadenbild der „Maria lactans“ – der „stillenden Madonna“ – Einzug in den Marienhymnus von Venantius Fortunatus, ein lateinischer Dichter, Hymnodist und Bischof der frühen Kirche: „Du höchste Herrin, schönste Frau, hoch über Sternen steht dein Thron. Du trugst den Schöpfer, der dich schuf und nährtest ihn an deiner Brust“.
Der russische Pilger Abt Daniel, der von 1106-1107, das Heilige Land bereiste, schreibt über die Milchgrotte: „Nicht weit von der Geburtskirche, ein Steinwurf gegen Mittag hin, findet sich eine große, in den Berg gehauene Grotte. In dieser Grotte hat die heilige Jungfrau mit Christus und dem heiligen Josef gewohnt.“
In einer Proklamation von Papst Gregor XI im Jahre 1375 wurde der Ort als heilige Stätte offiziell von der Kirche anerkannt. Die Franziskaner bauten 1872 eine kleine Kirche darüber. Kunsthandwerker aus Bethlehem schmückten den Schrein als Ausdruck ihrer Liebe zu Maria mit Perlmutt-Schnitzereien. Außerdem findet der Besucher dort mindestens ein Dutzend von Gemälden, wie Maria das Kind stillt.
Das göttliche Wort ist eben zum Menschen geworden. Mit all seinen Bedürfnissen. In Windeln gewickelt. An der Mutterbrust genährt. In intimer Beziehung zu seiner Mutter. So wird das Gotteskind zu einem sterblichen Menschen, damit wir sterbliche Menschen das göttliche Leben empfangen.
Vor allem aber macht diese Grotte deutlich, dass Maria die Mutter der Kirche ist und ihre Kinder zu einer tiefen Beziehung zu ihrem Sohn führen und all jene einladen will, die auf der Schattenseite des Lebens stehen und zu kurz gekommen sind. Teilte sie doch selbst das Schicksal eines Flüchtlings, das so viele Millionen Menschen heute erfahren.
Wer sich in der Milchgrotte etwas länger aufhält, sieht vielleicht die eine oder andere Frau, wie sie ihre Finger in das Öl des „ewigen Lichtes“ taucht und damit ihre Brust berührt oder ganz selbstverständlich vor dem Bild der Madonna ihr Kind stillt. Ein wunderbarer, heiliger Moment an diesem biblischen Ort. Kinderlose Frauen verschiedenster Religionen pilgern seit Jahrhunderten dorthin, um ein Kind zu erbitten. Ein starker Glaube und das Gebet können tatsächlich Wunder bewirken, was Zehntausende Mütter erlebt haben. In einem Nebenraum sind die Wände vollgepflastert mit Briefen und Babyfotos von Menschen aus aller Welt als Zeugnis für Gebetserhörungen.
Eine Mutter aus Spanien schreibt: „Carmen ist ein Geschenk des Himmels.“ Ein Ehepaar aus Irland: „In tiefer Dankbarkeit Unserer Lieben Frau für unseren Sohn Jamie.“ Eine Frau aus Venezuela gebar nach fünf Fehlgeburten ihr „Wunderbaby Leonardo Jose“. Manche Eltern bringen ihre Kinder aus weit entfernten Ländern wie Sri Lanka, den USA, Kanada, Bermuda oder England zu dem kleinen Schrein in der Grotte, um danke zu sagen.
Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass direkt daneben ein Kloster der Schwestern von der ewigen Anbetung des Allerheiligsten Sakraments im Jahr 2006 gegründet wurde. In enger Zusammenarbeit mit den Franziskanern geben diese Schwestern aus Brasilien, Frankreich, Spanien, Polen, Mexiko, Irland und den Philippinen dort ein Zeugnis ihres gemeinschaftlichen Lebens; denn die Anbetungskapelle ist mit einem Gang durch die Milchgrotte verbunden.
Die einheimischen Christen wie auch die Heilig-Land- Pilger können dort vor dem Allerheiligsten, wo immer eine Nonne anwesend ist, in stiller Anbetung verweilen oder ihre Gebetsanliegen auf einem Zettel schriftlich hinterlassen. „Die lauten Rufe der Muezzin von den benachbarten Minaretten stören die Schwestern nicht,“ versichert die Oberin Maria von Jesus. „Auch die israelische Mauer vor Bethlehem bedeute für unsere Gemeinschaft kein Problem, da die Schwestern ihr Leben „ohnehin freiwillig hinter Mauern verbringen“.