Wer den Schritt tut, das Leben anderer Menschen als nicht mehr lebenswert zu betrachten, betritt die schiefe Ebene der Euthanasie. Es fängt damit an, dass öffentlich über das Töten geredet wird. Dazu gehört die Überhöhung der (Selbst-)tötung als Freitod. Die entstandene gesellschaftliche Stimmung übt Druck auf alte und kranke Menschen aus, nicht weiter zur Last zu fallen. Lobbygruppen fordern, immer weitere Personengruppen in die Tötungshandlungen einzubeziehen: Demenzkranke, psychisch Kranke, Gebrechliche und schließlich gesunde „Lebensmüde“.
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Der Schritt vom assistierten Suizid zur Tötung auf Verlangen ist dann nicht mehr weit. In den Niederlanden wurde unlängst eine demenzkranke Frau trotz Gegenwehr getötet. Die Gerichte haben es nachträglich gebilligt. In Belgien spricht man inzwischen von einer „Banalisierung“ der Euthanasie, die mit Entsolidarisierung und Zerstörung der moralischen Werte der Gesellschaft einhergeht.
Der Druck auf Ärzte und Gesundheitspersonal, sich daran zu beteiligen, wird erhöht. Das Miterleben und die Duldung von Tötungshandlungen führt zu seelischen Langzeitschäden eines immer größeren Teils der Bevölkerung.
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Suizidalität ist keine Krankheit, sondern ein emotionaler Zustand, der sehr labil ist und sich jederzeit wieder ändern kann, wenn ein Mensch Hoffnung schöpft und in seiner Verzweiflung nicht im Stich gelassen wird. Dafür braucht es aber eine vertrauensvolle Beziehung und konkrete Hilfe, gemeinsam die als unerträglich erlebte Situation zu verbessern.
Raimund Klesse
Der Autor ist ein Schweizer Psychiater. Der Text enthält Auszüge aus einem Interview, das Stefan Rehder mit Raimund Klesse für Die Tagespost v. 11.2.21 geführt hat.